Nicht betroffen

Mich treibt um, was gestern im Fernsehen lief. Das Schleswig-Holstein-Magazin ist ein unterhaltsames Programm, das bei uns vor der Tagesschau gern gesehen wird. Da kommt am Tag vom Nikolaus eine Sequenz zwischen verschiedenen Themen, die unser nördliches Bundesland betreffen, eine Lesung an der Flensburger Uni. Das hat mich berührt. Hier wird einer vorgestellt, der ist nicht normal.

Ein Kauz, mag man denken, ein kleiner Typ. Verbogen sitzt der Mann im Rollstuhl, ist bloß ein Männchen auf den ersten Blick. Weiß leuchtet es um die Pupillen, seine großen Augen drehen sich lebhaft. Eine flotte Mütze, ganz normal sind Brille und Bart, nur die Stimme klingt ein wenig hoch. Er schaut uns an und wir am Fernseher, uns sieht er ja gar nicht. Was ich denke über ihn? Der sitzt da in meinem Glaskasten, wo eben noch Gazaterror oder Schneechaos flimmerte – wie ein Fisch im Aquarium. Niemand hört mich das sagen: „In der Glotze“, oder ist es andersherum? Respektlos sind wir besser nur privat. Ich schreibe darüber, aber meine Meinung interessiert nicht.

Der als Inklusionsaktivist vorgestellte Raúl Krauthausen liest aus seinem neuen Buch: „Wer Inklusion will, findet einen Weg“. Das ist mühsam. Einige Anekdoten berühren, man kann nicht ignorieren. Schon die Anfahrt zum Ort der Veranstaltung gerät zum erzählenswerten Beispiel. Mit dem Elektrorollstuhl bei Eis und Schnee Bahn fahren zu wollen, schafft verschiedene Probleme, hält den Verkehr der Allgemeinheit auf, nötigt die Bahn und normale Reisende offenbar. Krauthausen entwickelt bitteren Humor, uns seine Erlebnisse mitzuteilen. Ein Vorbild, seine Existenz ist selbstbestimmt. Ich realisiere, der wird eingeladen, ich nicht. Ein Satz aus diesem Vortrag vor Menschen, von denen die meisten Sonderpädagogik studieren, bleibt besonders hängen.

„Über das Leben behinderter Menschen entscheiden fast immer nicht behinderte.“

Ein grundsätzlich behinderter wie Krauthausen, der zwingend im Rollstuhl unterwegs ist (und auf den ersten Blick besonders), wird seinen kleinen Wuchs und manche Abweichung vom Normalen ein Leben lang behalten. Ein Blick genügt, zu begreifen, hier kommt ein Behinderter. Das ist erlaubt zu denken, weil unübersehbar. Das darf auch gesagt werden. So einer? Da überrascht seine verschmitzte Ansprache: Der kleine Mann gewinnt Herzen. Wo dieser Aktivist spricht, straft er uns Lügen durch seinen Humor, die intelligenten Darstellungen, wenn wir glauben, Bescheid zu wissen, gewohnt sind, Menschen dem Augenschein nach einordnen, dem Motto anhängen, drüber zu stehen als Normalgesunder.

Krauthausen ist ganz oben.

Niemand beneidet ihn scheinbar, das könnte die breite Blindheit der Masse sein. Und wie ist es bei psychisch Kranken, frage ich mich? Wir werden stigmatisiert. Über uns entscheiden oft nicht psychisch Kranke, und insofern ist die Lage ähnlich. Rollstuhlfahrer gelten als harmlos, werden bemitleidet, schlimmstenfalls ausgegrenzt, nicht beachtet. Ihnen traut man nicht zu, sich zu verändern, weil sie ja behindert sind – und es bleiben werden. Wir nageln unser Denken fest, wenn wir nicht bereit sind anzuerkennen, wie viel Entwicklung im Leben geht. Gesundheit ist möglich?

„Ganz ehrlich, wenn Leute sagen, jeder ist seines Glückes Schmied, ist die einzige Antwort, die darauf geht: aber nicht jeder Schmied hat Glück“, sagt Raúl Krauthausen im Beitrag.

Das trifft.

Psychisch gestörte Menschen könnten eine Gefahr bedeuten für sich selbst und andere. Das unterscheidet sie von den sogenannten, wie manche sagen: Gehandicapten. Die tun uns nichts. Die Bildzeitung weiß zu berichten, Psychos knallen durch, rasten aus, stechen zu. Das meinen nicht wenige. Bescheuert sind wir allemal manchmal. Dann verhängt der Amtsrichter einen Beschluss, der eine Zeit gilt und behandelnden Ärzten das Recht gibt, gegen den Willen des Patienten zu helfen. Das ist gängige Praxis und unumgänglich bei entsprechenden Notlagen, wenn wir das Leben von Menschen schützen möchten, die nicht wissen, was sie tun. Viele Patienten erholen sich zügig und sollen eigenverantwortlich ins bisherige Leben zurückkehren. Man gibt ihnen Empfehlungen, aber entscheiden dürften diese Patienten selbst, heißt es gern. Können wir das?

Da, an dieser wohlmeinenden Einschätzung vom selbstbestimmten Menschen anschließend der schwerwiegenden Erkrankung, darf man Zweifel anmelden und die Schnittmenge zum Inklusionsaktivisten finden. Er beklagt, um Anerkennung weiter kämpfen zu müssen. Das lernte der, und ich lerne noch immer, bin dabei, will aber selbst klagen: Wir haben auch diese Probleme, sind nicht normal und ebenfalls behindert, behindern uns selbst, werden behindert. Ich finde mich wieder bei Raúl Krauthausen. Behinderte steckt man in die Werkstätten, uns in eine Schublade. Wer sich hingegen als normal begreift, gibt einfach Vollgas.

Es gibt noch zu tun!

🙂