(M)eine kurze Geschichte der Kunst

Der Germanwings-Absturz jährt sich. Bis heute beschäftigt Angehörige und Justiz noch immer eine Frage: Wie konnte es dazu kommen? So überschreibt die Tagesschau ihren Artikel, und auch in einer Zeitschrift lese ich vom Vater, der seine Tochter und weitere Angehörige verlor. Der Mann klagt an. Klaus Radner möchte einen Schuldigen belangen, jemand, der die Verantwortung übernimmt. Verantwortung wofür? Der Pilot soll doch in übereinstimmender Erkenntnis der Spezialisten, die sich mit der Absturzursache befasst haben, das Flugzeug in suizidaler Absicht gezielt in den Berg geflogen haben. Damit wäre der Täter klar benannt, und die Angehörigen könnten sich in ihr Schicksal fügen. Das Traurigsein geht aber bekanntlich weiter. Jetzt nagt an den Hinterbliebenen der Wunsch nach Konsequenzen. Es müsste Menschen geben, mutmaßen sie, die gewusst haben könnten, der Pilot wäre krank gewesen, und die hätten ihm die Befähigung zu fliegen absprechen müssen. Nach solchen Mittätern sucht man also.

Schuld wird zugewiesen. Das ist keine Wahrheit, schuld zu sein, sondern das Ergebnis von Bewertung. Was als Tat gelten darf im Sinne von strafbarer Handlung, unterscheidet sich von der Wirklichkeit unseres Empfindens. Mich etwa tangiert ein Unglück irgendwo kaum, wenn ich nicht auf eine Weise persönlich betroffen bin. Dafür mag man mich anfeinden, meine pietätlose Haltung brandmarken? Es würde bei mir kein Mitleid, besondere Empathie für die von einer Katastrophe Betroffenen ausbilden, falls man mich aufriefe, zu trauern, wie sich’s gehört. Menschen entwickeln ihre Gefühle für sich und nicht entsprechend einer Vorgabe. Bei mir umgekehrt, noch schlimmer, bleibt ein gewisses Verständnis für den Piloten präsent, der seine besonderen Möglichkeiten nutzen konnte, zu gehen. Das darf man ja gar nicht zugeben.

Diese Haltung gegenüber Suizid verstört mich: Die Leute meinen, jemand solle gefälligst für sich allein sterben gehen, wenn er das unbedingt wolle, aber nicht noch andere mitnehmen. „Für mich ist er ein geisteskranker Massenmörder“, sagt Klaus Radner im Stern über den Piloten Andreas Lubitz und: „Keiner hat dafür gesorgt, dass er aus dem Verkehr gezogen wurde.“ Da halte ich dagegen. Es gibt keine geisteskranken Massenmörder, bis jemand sie so nennen kann (und Zustimmung bekommt).

Das Video eines Nachrichtensenders findet sich auf YouTube. Die Journalistin besucht den Sprecher der Angehörigen, der mehrere Verfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland und die Fluggesellschaft initiierte. Klaus Radner erzählt von dem schönen Tag, der das gewesen war, beschreibt, wie er mit dem Auto unterwegs zum Flughafen fuhr, seine Tochter, den Schwiegersohn, sein Enkelkind abzuholen. Im Radio, während er sich seinem Ziel näherte, hörte Radner die ersten Berichte vom Absturz der Maschine aus Barcelona. Radner sagt, er hatte Mühe, kontrolliert den Parkplatz am Terminal zu finden. Sofort habe er gefragt, ob noch ein zweites Flugzeug auf derselben Route unterwegs wäre? Es gebe nur diese eine Verbindung, war die Antwort. So bitter, aber wären fremde Menschen parallel unterwegs abgestürzt, hätte sich dieser Mann wohl kaum ins Zeug gelegt, Anklagen zu formulieren? Er hätte die Heimkehrer glücklich in die Arme geschlossen. Man wäre gemeinsam ergriffen gewesen – für einen Tag:

„Das hätten wir sein können.“

Es ist noch weiteres Schlimmes anderswo auf der Welt, das aufgearbeitet werden müsste, finden manche. Im Tageblatt lese ich von einer ebenso bösen Ungeheuerlichkeit, die aber ins Bild passt, mein Thema belebt, das mich ohnehin umtreibt. Ein Mann hört nicht auf, seine Geschichte zu erzählen, er wurde als Kind misshandelt. Das wäre ihm in einer psychiatrischen Einrichtung der Nachkriegszeit geschehen. Er ist wohl einige Jahre älter als etwa ich selbst, der ich ja auch in diversen Krankenhäusern Aufenthalte erlebt habe, die ich gezwungenermaßen erdulden musste. Seit den Fünfzigern hat sich die Lage definitiv gebessert. Ich kann nur Positives über unsere Notfallbehandlung in der Psychiatrie berichten, von wenigen Ausnahmen abgesehen, die mich zugegebenermaßen ärgern. Mich ärgert mehr, was anschließend einer Versorgung im psychiatrischen Krankenhaus Therapie genannt wird, also das ambulante Geschehen – und die allgemeine Stigmatisierung in der Gesellschaft. Die Hilfen, die wir Psychos annehmen müssen, helfen kaum. Da ist die unzureichend strukturierte Behandlung zu nennen, die erzwungene Abhängigkeit unreifer Patienten an ihren Psychiater, die langwierige Betreuung mit zweifelhaftem Nutzen, die Benebelung durch die Pharma. Ich konnte damit Schluss machen, gehe zu keinem Arzt. Mich schreckt das Risiko möglicher, zukünftiger Erkrankungen nicht. Ich komme klar. Ich nehme keine Pillen.

Sich zu ärgern, ist harmlos, verglichen mit dem Trauma, das diese misshandelten Kinder bis heute krank macht nach erlebter Gräuel. Es sind Jugendliche, die weggesperrt wurden, vergewaltigt oder medikamentöse Versuche an sich erleiden mussten. Den heute Erwachsenen geht es wie denen, die in einer Kirche Missbrauch erlebten. Sie suchen ebenfalls nach Sühne wie die Angehörigen der Flugzeugkatastrophe. Die Hinterbliebenen der Germanwings-Toten beschuldigen auch den Arzt des Piloten. Ihnen geht es allerdings nicht um eine bessere Psychiatrie. Den Opfern psychisch kranker Menschen ist vor allem dran gelegen, dass es keine psychisch kranken Menschen gibt. Umweglos sollen diese in ihren Augen potentiellen Täter separiert werden. Die müssen weg, damit sie, die Normalen, nicht gefährdet sind bei ihrem normalgesunden Gebaren, dem Flug in ihren wohlverdienten Urlaub beispielsweise. Beim Besuch eines Volksfestes wollen sie unbeschwert feiern und nicht etwa durch einen wahnwitzigen Spinner mit Auto totgefahren werden.

Natürlich versagen Ärzte. Piloten versagen auch, und manchen Menschen bleibt ein lebenswertes Leben versagt. Viele sind nur so da auf unserem Planeten. Sie wissen nicht, wie das geht, erfolgreich zu ihrem Besten zu handeln. Sie können nicht tun, was anderen normal gelingt. Sie bleiben auf einem hinteren Platz bei jedem Vergleich. Unsere Gesellschaft lebt aber nach dem Supermarktprinzip. Die Auslagen zeigen viele Sorten, und der Kunde greift sich das knackigste Gemüse. Das gibt uns ein Bild. Ich verlange, dass der Psychiater aus einem misslichen Apfel den marktfähigen macht. Menschen wie Radner möchten, dass solches Obst gar nicht in den Handel gelangt. Beides ist unmöglich. Vergleiche hinken, in einer Avocado steckt man nicht drin, und doch: Was könnte besser sein? Die Mittel zur Selbsthilfe sind vielfältiger, als mancher denkt. Wir sind mehr als Fallobst, könnten aufstehen und besser zu gehen lernen. Der allgemeine Wunsch, psychisch Auffällige nicht nur wegzusperren, sondern diese zu quälen, kann nicht aus unserer Welt verbannt werden. Einzelne oder größer werdende Gruppen probieren, populistische Motive umzusetzen.

„Die Demokratie ist die einzige Staatsform, die man erlernen muss.“

Das hat mir der Bürgermeister eines nicht so kleinen Städtchens hier bei uns im Norden gesagt. Wir waren ins Gespräch gekommen, nippten Prosecco, aßen Häppchen auf einer Vernissage. „Das andere, das Barbarische, die Korruption und der Machtmissbrauch sind sowieso da“, meinte der in Brandenburg Aufgewachsene. Der Verwaltungschef hat hier in Schleswig-Holstein seine Aufgabe gefunden, und mir war ein wenig peinlich, mich als Nichtwähler zu outen. Mein Interesse an einer besseren Welt, die bestehende noch zu retten, flammte kurz auf.

# Wer ist das Opfer von wem?

Das belebt unsere Wut, wenn wir ohnmächtig bleiben und kleine Schritte machen müssen. Im Zorn und sich dazu gesellender Hilflosigkeit könnte der Hinterbliebene seine Schnittmenge erkennen – zum geisteskranken Massenmörder, wie Radner den Piloten nennt.

Andreas Lubitz ist ebenfalls tot.

Integration bleibt eine Aufgabe. Wir alle können individuell Besserung durch Lernen erfahren. Gefühle sind ein Teil des Lebens. Durch Vorschriften und Gesetze allein kann keine lebenswerte Gesellschaft entstehen. Unterschiedliche Lebenswege provozieren die Ausgangslage einer Begegnung. Jedem Leben ist die Fähigkeit zur Reflexion gegeben. Das kann eine neue Bewertung bedeuten, anderes Handeln anschieben. Die Macht, eine Konstellation insgesamt zu kontrollieren, hat der Einzelne nicht.

Menschen gibt es, die als Opfer gelten können ohne Wenn und Aber. Eine komfortable Ausgangslage für eine Anklage gegenüber der Gesellschaft oder Organisation, einer Fluggesellschaft, den Ärzten, der Kirche ist das. Glückliche Menschen könnten die sein, denen selbst niemand etwas vorwerfen kann, sollte man meinen, aber es ist gerade umgekehrt. Ihr unersetzlicher Verlust wurde vorsätzlich oder fahrlässig herbeigeführt. Sie sind Trauernde, weil andere gefährliche Fehler machten, und so hilft ihnen wenig, unbescholten zu sein. Sie sagen: „Warum reißt sich die zivilisierte Welt nicht zusammen und schafft Bedingungen, damit alles seine Ordnung hat?“ Das ist ein bekanntes Motiv. So klagt der Tüchtige, die Beschädigte, der Benachteiligte. Diese Menschen blenden effektiv aus, was eigentlich klar sein sollte für einen erwachsenen Menschen, dass der Planet noch Fehler hat, sie selbst das Universum nicht erfunden haben oder durch Eigenleistung glaubhaft darauf verweisen könnten, wie richtig zu leben ginge. Menschen geben vor, dass jeder es ihnen gleich, anständig und mal eben nachmachen könnte mit der sauberen Existenz. Viel häufiger ist unsere Realität aber so, dass man schon ein wenig Glück gehabt haben muss zum Wohlstand und Wohlgefühl am Lebensort. Man benötigt Einsicht ins eigene Versagen, wie es doch allen mal geschieht, um davon loszukommen oder die Hilfe vom Drumherum, damit gelingt, selbst weiter offen in den Spiegel schauen zu können.

Die vielen Romane, die meisten Filme im Fernsehen nach acht beinhalten Mord oder Tod – zumindest in Teilen ihrer Handlung. Die täglichen Nachrichten sind gefüttert mit Unfällen, Betrug und Verletzungen, Tod. „Drei Personen starben“ oder „es gab hunderte Tote“, heißt es oft in den Medien. Man überliest das. Wir wissen um die Gefährlichkeit und Endlichkeit des Lebens, halten uns Unangenehmes vernünftigerweise vom Leib.

Die Vernunft hat aber ihre Grenze.

Das musste ich erst lernen.

# Krank oder Mörder?

Trägt die Gesellschaft insgesamt die Schuld am Amok mit oder ist der einzelne Verrückte jemand, der aus irrationalem Grund loslegt bei seiner jeweiligen Wahnsinnstat? Hätte der Pilot Andreas Lubitz wie durch ein Wunder den Absturz überlebt, wäre ihm das fatale Flugmanöver als Tat nachgewiesen worden, bestünde eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass der junge Mann für schuldunfähig erklärt worden wäre? Er hätte als psychisch krank gegolten. Darüber regt sich der Sprecher der Angehörigen auf, dass kein Psychiater die Dramatik seiner Persönlichkeitsstörung erkannte und den Mut aufbrachte, seine Flugtüchtigkeit in Frage zu stellen. Radner über den Germanwings-Piloten im Stern:

„Lubitz war bei über 40 Ärzten in Behandlung.“

Die Radners umgekehrt werden im Internet in wortreichen Beiträgen als gesunde, leistungsbereite, mustergültige Vorzeigeleute mit ihrer tollen Tochter beschrieben. Die junge Opernsängerin trat in der Metropolitan Opera New York auf, der Scala in Mailand oder in der Münchner Staatsoper, heißt es. Sie war auf der Heimreise nach einem Auftritt in Barcelona.

Das Leben vom Unternehmer Radner gerät aus den Fugen, als das seiner Tochter endet. Die Suizidgedanken seien inzwischen verschwunden, sagt er. Der Gesunde erlebt die Erfahrung, zum Psychiater gehen zu müssen. „Sie machen sich ihr Leben kaputt, wenn Sie jeden Morgen mit Wut und Zorn aufwachen“, habe der gemeint. Das steht im Stern. Wie sich die Bilder gleichen: Der verrückte Pilot mit seinem Zorn auf die Gesellschaft begeht erweiterten Suizid, aber der Hinterbliebene wird nun auch so wütend auf das Versagen der Fluglinie, die Bundesrepublik, die Ärzte, dass er ebenfalls seinen Selbstmord in Erwägung zieht. Sich umbringen oder darüber nachdenken, es zu tun, ist nicht dasselbe. Radner findet zurück ins Leben. Seine Vorzeigepyramide inklusive Enkelkind ist eingestürzt, bleibt aber als erledigte Leistung anerkannt, kann in Bildern weiterleben.

Das hätte Andreas Lubitz gern geschafft, eine Existenz mit allen Auswüchsen von Belobigung, darf man das annehmen?

Viele Musiker kommen bei Unfällen ums Leben, weil Künstler weltweit reisen. Flugzeugführer und Bahnpersonal, Busfahrer ebenfalls unterliegen den Risiken des Verkehrs. Nicht immer können die Umstände einer Katastrophe aufgeklärt werden. Ein mutwilliger Suizid im Personenverkehr gilt als selten. Das kann nicht verhindert werden. Eine perfide Idee steht dahinter. Das dürfte nachdenklich machen, wie finster Menschen denken, die neidisch, hilflos zugleich sind und in einem letzten Aufbegehren Stärke zeigen wollen. Toleranz ist zum gesunden Funktionieren nicht nötig. Wer allerdings von klein auf traumatisiert, nicht angemessen respektiert oder zu Höchstleistungen angetrieben wird, die seine Fähigkeiten übersteigen, käme weniger gestört, liebgewonnen und als Individuum toleriert, besser weg. Die anderen und sich selbst so vollumfänglich zu hassen, ist das Ergebnis einer Lebensgeschichte. Den Anfang des Erlebens, die langen Jahre der Adoleszenz, prägen unsere Eltern. Sie erziehen uns so gut, wie sie es können. Das kann mal nicht genügen im besonderen Fall, aber dieser Einzelne, das sind wir alle, jeder für sich.

# Selbst auch schuld

Leben wir in kranker, krank machender Umgebung? Das hieße, den Menschen als so bösartig anzusehen, dass jeder für den Nächsten ein Risiko darstellt. Eine so gesehen extreme Sichtweise machte die gesunde Entwicklung des Einzelnen zur Ausnahme. Der organischen Gesundheit steht unser Ansatz von Normalität gegenüber. Wir können Krankheit nicht immer klar erkennen. Bei abnormen Verhaltensweisen, die der Beurteilung unterworfen sind, ob jemand stört, beginnt ein weites Feld. Sind Eltern grundsätzlich latent pathologisch, darf man das fragen? Das scheint die Realität auf den Kopf zu stellen, die Familie ist schließlich unsere gesellschaftliche Basis. Eine Geschichte der Eitelkeiten und Macht über Abhängige könnte man aber überall schreiben, wo Menschen leben. Kinder können missbraucht werden, weil sie schwächer sind, unseren besonderen Schutz benötigen, bis sie als erwachsen gelten. Der Zeitungsartikel über Psychiatrie-Opfer (von dem die Rede war), beschreibt die Zustände im Deutschland der Nachkriegszeit: „Eine Einrichtung, die nicht mehr als der Verwahrung dienen soll, Verwahrung der Schwachsinns- und Idioten-Patienten.“ Bis in die 60er-Jahre wurde in der Psychiatrie das „Unerziehbarkeitsdogma“ vertreten, schreibt das Pinneberger Tageblatt. Man meinte, es gäbe „psychisch und körperlich minderwertige Menschen, bei denen es sich schlicht nicht lohne, sich viel Mühe zu machen.“ So lautet ein Zitat der damaligen Auffassung. Das schreibt sich leicht hin für den Redakteur, weil das Böse inzwischen besiegt wurde.

Psychiatrie-Opfer Günter Wulf spricht im Kieler Landtag. Man hört ihm zu. Die geschehenen Verbrechen liegen viele Jahre zurück. Das ist der Öffentlichkeit eine Rede wert. Er galt als unerziehbarer Schwachsinns- und Idioten-Patient und darf heute zu uns sprechen. Wie schön.

Kinder wurden ausgenutzt für medizinische Versuche, weil man sie ihren Eltern wegnehmen konnte, die nicht klarkamen. Es bedeutet Verantwortung zu übernehmen, wenn man Kinder hat; manchen wächst das Elternsein über den Kopf.

„Kleine Kinder, kleine Probleme, große Kinder, große Probleme“, lautet eine Weisheit.

Kommt man damit zu Ende, also ab welchem Alter haftet man nicht mehr für die eigene Brut, und zwar gesellschaftlich (nicht juristisch) betrachtet? Das muss jeder selbst entscheiden. Kann man sich freisprechen, falls das erwachsene Kind Scheiße baut, dass die Nachbarn den Kopf schütteln? Inwieweit auf die Eltern vom Germanwings-Piloten zutrifft, dass sie als Erzieher versagten und deswegen der junge Mann letztlich scheiterte, sollte man sich verkneifen zu fragen. Es wäre heikel, besonders wenn die Umstände welche sind, die ausschließlich über unsere Medien vermittelt werden. Das wird direkt Betroffene nicht davon abhalten, die Familie Lubitz ins Visier zu nehmen.

Mit den Leistungen der Kinder zu renommieren, ist das normale Verhalten. Klappt es nicht mit ihrem Schulabschluss, dem Doktortitel, dem angestrebten Verdienst, schmiert die Erfolgskurve ab oder kommt gar nicht erst hoch, hat nicht nur ein nachkömmlicher Sprössling für sich allein seine Sorgen. Es fällt auf die Eltern zurück. Einen Piloten oder die bewunderte Opernsängerin vorweisen zu können, macht ihre Erzeuger stolz. Wo sich Eltern über das Wohl der Kinder hinaus selbst auf dem Thron sehen, ihre selbstgemachte Schöpfung sei alles zusammen, ihr Kind plus dessen Probierbewegungen eigentlich ihr Lebenswerk, nimmt die Bewertung bedenkliche Züge an. Und genau das lehrt uns die traurige Geschichte mit dem Flugzeugabsturz. Aus dem toten Nachwuchs ist ein Instrument geworden, mit dem die Hinterbliebenen um ihren eigenen Ruf kämpfen, bessere oder unschuldige Menschen sein zu wollen. Das ist ein Muster. Unsere Kinder sollen es mal besser haben. Dafür muss man zunächst eine Partnerschaft hinbekommen, Kinder kriegen, und eine gute Portion Glück gehört noch dazu, damit es klappt. Es bedarf einer weiten Sicht, viel Toleranz, um anzuerkennen, dass ein Leben mal nicht gelingt hier und da.

Diese Geschädigten, Familie Radner, sind tadellos. Das sind Gesunde. Sie leisten was. Die benötigen nicht unzählige Ärzte. Sie brauchen keine Schutzbehauptungen wie die Eltern von Andreas Lubitz, die eine Verschwörungserzählung zum Besten geben, ihr Sohn sei im Cockpit ohnmächtig geworden. Das überzeugt kaum. Wie sieht es aus, wenn die eigene Weste weniger weiß ist, die Schuld nicht eindeutig und klar bei anderen auszumachen ist? Da dürfte man als Opfer nicht so leicht anerkannt werden. Wer anteilig schuldig ist an einer Situation, könnte Schwierigkeiten bekommen, seine Reputation zu verteidigen. Das genau ist mein Problem. Ich war schon psychisch krank. Ich schlug zu. Meine Akte bleibt. Diese Vergangenheit hängt an mir wie ein Klotz am Bein. Meine Anklage gegen die Gesellschaft bleibt ein hilfloses Aufbegehren. Verlangen zu wollen, dass ein übliches und etabliertes Stigma beendet würde, bedeutet einen Kampf gegen die Flügel von Windmühlen zu führen. Wer so etwas probiert, steigert noch die Aufmerksamkeit der Leute und belebt das Bild vom selbstverständlichen Blödsein.

So kommt mir mein Malen und Schreiben vor. Es gebiert keinerlei Wertschätzung, schafft allenfalls neue Angriffsflächen für welche, denen ich ein Kranker sein soll, ein Gefährlicher und mehr davon. Den meisten Menschen, die mich kennen, bestätigt jedes Wort, das ich hier schreibe, nur meine Lebensunfähigkeit. Sie sagen: „Du malst keine Wohnzimmerbilder.“ Die Gesellschaft respektiert Ihresgleichen entsprechend des Nutzens, den sie erwirtschaften. Wer kein Geld für etwas verlangt, das veröffentlicht wird, macht wertloses Zeug. Wer seine Bilder nicht ausstellt, verkauft, ist kein Künstler, nehmen viele an (die nicht malen).

Ich muss mich damit zufrieden geben, von anderen gemocht zu werden ausschließlich als freundlicher Zeitgenosse im Rahmen ihrer Aktivitäten, die diese Leute bekanntgeben. Ich bin der, der am Wochenende mit ihnen segelt, weil wir ein Boot besitzen. Ich werde von Leuten eingeladen, die ihre Bilder ausstellen. Ich besuche Veranstaltungen, zu denen ich gebeten werde, mit anderen gemeinsam hin zu gehen. Man fragt mich, ob ich mitmache, fragt nie, was ich mache. Das musste ich herausfinden, um zum Kern meiner Probleme vorzustoßen! Die Erkenntnis nicht vorhandener Wertschätzung und deswegen nicht gekränkt zu reagieren, beendet scheinbar einen lebenslangen Teufelskreis wiederkehrender Erkrankungen. Es gibt mir emotionale Freiheit und das Gefühl drüberzustehen über den Leuten, die voraneilen, sich wichtig nehmen usw. Mich bittet niemand zum Interview. Die Formel, nach der ich meine Erkrankung endlich zu verstehen lernte, heißt, ich wusste, merkte nicht, dass mir weh tat, nirgends begehrt zu werden, gemocht für meine Einfälle. Ich wurde und werde weiter ausgenutzt, verarscht, geduldet – aber nicht geliebt. Daran ändert sich wenig, was auch immer mir einfällt zu tun. Das geht vielen so, dass sie geringe Wertschätzung erfahren. Das Problem ist, darin eine Kränkung zu erleiden, die man sich verbietet zu bemerken. Angst oder Verletzungen nicht wahrzunehmen, macht krank. Das Leiden kann nicht durch Leistung behoben werden in unserer Konsum- und Leistungsgesellschaft. Mehr tun, fleißiger sein, heißt ja noch nicht, die individuell problematischen Emotionen zu begreifen. Eine Gruppierung, die Mitglieder anhand ihrer Nützlichkeit verordnet, verblendet sich gegenseitig. Wer nichts erbringt, mag annehmen, niemand zu sein? Das habe ich in einem Buch gelesen:

„Als wäre eine Uhr keine mehr, wenn sie nicht mehr geht.“

# Kunst und Können, was heißt das schon?

Ein Lebenskünstler wird genannt, wer die Kunst beherrscht, das Leben zu meistern und stets das Beste aus einer Situation zu machen: „Es ist nicht so, dass ich gerne lebe“, zitiert der Stern den Hinterbliebenen Radner und findet damit die zupackende Überschrift. Das verlorene Paradies, könnte man meinen, aber es steht mehr dahinter. Niemand lebt hier auf Erden ein ungetrübtes Glück. Man steht immer auch auf den Füßen der anderen, und manche trampeln geradezu auf den Schwächeren rum. Die Anteilnahme ist Klaus Radner gewiss bei dieser Geschichte. Mitleid kann eine schöne Vergangenheit nicht wieder zurück bringen. Zuhören hilft und tröstet.

Der Einzelne kann die Welt nur wenig aufräumen. Mit ein paar Leuten mehr, die zusammen für ein Projekt streiten, geht ein wenig mehr. Menschen bauen ihre Stadt wieder auf nach einer Katastrophe. So ist, wer etwas tun kann, glücklicher als jemand, der nicht die Kraft findet, anzufangen, um Hilfe zu bitten. Ich möchte nicht anmaßend sein, mein kleines Leben mit den größten Opfern in Überschneidung zu bringen, um billig Aufmerksamkeit zu erheischen angesichts wirklicher Dramen. Der Austausch von Gedanken, die Reflexion von Kümmernissen und die Anerkennung von Zorn und Mutlosigkeit bringt uns nach vorn. Ich kann nicht ändern, die Welt durch meine Brille zu sehen, meine kleine Perspektive. Mir sind Menschen suspekt, die vorgeben, objektiv zu urteilen. Ich beherrsche diese Kunst, meine persönliche Sicht zu bemerken, dafür einzutreten. Das bilde ich ab. Es bleibt nicht selten die geschmähte oder unverstandene Einzelmeinung des scheinbar grundlos Beleidigten. Mancher erkennt den bemühten Versuch, Deutungshoheit einzufordern, meint: „Was hat er denn?“

Durch bloß größere Leistung kann keiner mehr Bewunderung oder bessere Bezahlung erwarten. Das zu denken, ist ein Irrtum. Es kommt drauf an, den Platz in der Gesellschaft zu erobern, wo einem die gewünschte Anerkennung geschieht. Wie wichtig ist Anerkennung? Schaut man sich die beworbenen Ausstellungen von Künstlerkollegen (vor allem Kolleginnen sind es ja) hier über die Dörfer an, lohnt sich’s kaum. Das meiste ist schwach, dass es quält anzuschauen (für mich, der etwa Zeichnen gelernt hat). Vieles nervt, ist dekorativ. Etablierte, normale Kunst, was geht für weniger Berühmte, denn das sind wir meistens, wiederholt die immer gleichen Motive unserer Zeit. Ein wenig unscharf muss es schon sein. Das Übliche ist Aktionskunst. Ein Event vereinigt die Herde dabei zu sein. „Schock-Aktion mitten in der Stadt: Falscher Wal in Hamburg City gestrandet. Sensation an der Binnenalster. Ein Wal liegt auf dem Anleger“, (Bild). „Das ist wegen dem Klima“, heißt es etwa. Morgen kommt dann anderes. Künstler benötigen gute Beziehungen zum Aussteller, um nach vorn zu kommen. Man muss produzieren, abliefern, darf keinesfalls stören. Kultur ist ein Geschäft und lukrativ für welche, die Geld vonseiten der Förderung verteilen können. Soweit kann ich auf den Wettbewerb verzichten und tun, was mir gefällt. Mein Wohlbefinden gelingt, weil ich weiß, dass ich ein Opfer bin, eines von allen, vom System und eines, das nie Wertschätzung erfahren wird. Ich darf keine Anklage führen. Die Gesellschaft respektiert mich nicht.

Ein Bild ist für die Leute kaum mehr als ein Geldschein mit seinem Motiv, eine Aktie, die sie zum eigenen Vorteil nutzen. Wer das Wertpapier gestaltet hat, ist dem Käufer häufig egal? Mir kommt es so vor. Wenn ein Geschäft gemacht wird, wollen beide gewinnen und gleichberechtigte Partner sein. Der Kunde oder Sammler von Kunst handelt mit dem Namen des Malers. Er wird selbst zum Gestalter: „Das habe ich gekauft.“ So kann jemand für sich werben, drei „Picassos“ zu besitzen. Es hieße umgekehrt, der berühmte Spanier konnte sich eigenes Geld malen? Wer das so sehen möchte, soll es tun. Die Befriedigung des Schaffens kann man nicht kaufen. David Hockney hat darauf hingewiesen: „Wer Kunst sammelt, ist kein Künstler.“ Die tatsächliche Lust an der Ästhetik, den Farben und der Komposition hat ein Maler für sich. Wir spielen mit dem jeweiligen Stilmittel, bis sich Befriedigung einstellt. Das zeigt uns selbst, wo wir sind, an welchem Punkt unserer kreativen Laufbahn. Man sagt sich: „Ich kann das Bild nicht weiter verbessern“, und hört mit dem jeweiligen Motiv in genau diesem Moment auf. Schaut ein Künstler zurück auf die eigenen aber früher gemalten Bilder, erkennt er, wie viele neue Möglichkeiten der Gestaltung für ihn hinzugekommen sind.

Was ich aktuell bewältige, wäre mir anfänglich nie in den Sinn gekommen. Ich hätte so nicht denken können. Die Formate wären in dieser Größe nicht schaffbar gewesen. Die Vorbereitung auf die Malerei mit entsprechenden Skizzen hätte ich nicht als so notwendig erkannt. Meine Kenntnisse der Komposition waren anfangs geringer. Der Drang, bald fertig zu werden, ließ mich regelmäßig Verbesserungen übersehen, die es gegeben hätte usw. Ich war völlig verheddert mit mir selbst. Der Antrieb war ein anderer. Ich wusste, wohin zu wollen, aber nicht den Grund. Damit blieb vieles unklar. Das heutige Arbeiten ist getrennt vom Wunsch nach Anerkennung, und das empfinde ich als den größten Fortschritt überhaupt. Ich habe mich an Vorbildern orientiert, deren Aussagen aber nicht so verstanden, wie ich sie inzwischen bewerte. Mit jedem neuen Bild kommen weitere Erkenntnisse dazu. So sagt Picasso folgerichtig: „Bilder sollten nummeriert werden.“ Damit – und mit weiteren Belegen, die wir erbringen könnten etwa zur Fähigkeit, eine Leistung auch zu wiederholen – wird schon deutlich, dass er seinen gedanklichen Schwerpunkt auf die Kreativität gelegt hat, seine Meisterschaft und sein Können. Er ist einer der Glücklichen, die bereits zu Lebzeiten berühmt waren. Das sei dem Außergewöhnlichen gegönnt.

Unser Leben endet mit dem Tod. Es scheint eine Binsenweisheit zu bedeuten, aber man merkt erst nach einiger Zeit, was endliches Leben heißt. Bilder machen, ist auf eine Weise Kulissen für die Bühne hinstellen und davor eine Szene gestalten. Um das effektiv zu können, muss man zunächst den eigenen Blick freibekommen. Damit sind Menschen im Nachteil, die wie hinter einer Maske leben, das von sich selbst aber nicht wissen und noch nicht gelernt haben, wenigstens ein paar Fenster ihrer Fassade zu öffnen. Wenn man es kann: Auf YouTube läuft ein Video. Eine junge Frau hat mit neunzehn Jahren im Verlauf ihrer Jugend allmählich die Sehkraft beinahe total verloren. Sie hat eine unheilbare Krankheit, mit der sie nun leben muss. Kaum zu fassen, manche glauben ihr nicht: „Du bist hübsch, du kannst nicht blind sein“, zitiert sie Fremde, mit denen sie sich auseinandersetzen muss. Daran muss ich unweigerlich denken, wie sehr uns Äußerlichkeiten prägen.

Es ist ein Kennzeichen der Jugend, in den eigenen Fantasien gefangen zu leben. Das hat ja seinen Reiz, sich was zu erträumen. Hier finden sich auch die unwiederbringlichen Jahre der Hoffnung auf eine großartige Zukunft. Es bleibt ein Schatz voller Bilder, sich heute daran zu erinnern, wenn man zulassen kann, ohne Scham zurückzudenken. Damit öffnet sich ein Jungbrunnen, ein wundersamer Topf voller Einfälle, die ganz individuelle Geschichtenkiste. Das sind verbliebene Perspektiven für zukünftige Gestaltung. Nur wer weiß, wo er steht, kann auch angemessen voran gehen. Die nächsten Tage mit Leben zu füllen, bedeutet dem alten Menschen ganz anderes als dem jungen.

Meine Eltern sind tot. Gelegentlich besuche ich noch fremde Alte im Seniorenheim, die ich kenne und mag. Ich möchte nicht den Bezug zu meiner eigenen kürzeren Zukunft verlieren. So habe ich meinen lieben Bekannten Eckhard provokant gefragt, was seine nächsten Pläne wären? Der Siebenundachtzigjährige sitzt mit dem inzwischen zweiten Schlaganfall gezwungenermaßen hier ums Eck im Stift. Er hat nicht lange überlegt nach dieser möglicherweise frechen Einlassung: „Ich möchte den verdammten Katheter loswerden, wieder selbst gehen können, alleine aufs Klo.“ Das berührt mich. Ich musste ihn einfach piesacken. Eckhard hat innere Haltung. Ein Vorbild. Mein Vater war anders: „Ich bleibe jetzt einfach im Bett, bis ich tot bin.“ Ziemlich blöd und bestimmt kein Vorbild in dieser Sache. Aber leicht ist es nicht, die Realitäten zu nutzen, die uns schließlich bleiben.

# Aufräumen

Das können wir von den Alten und Behinderten lernen, die wahren Möglichkeiten zu entdecken. Meine Bilder wie auch den Alltag bewältige ich heute entsprechend der Fragestellung: „Was stört mich?“ Das heißt weniger, einer Vision zu folgen, sondern pragmatisch die notwendigste Motivation zu erspüren. Damit wird die dauernde Vervollständigung eines einzigen Bildes dem Tagesgeschehen untergeordnet. Der Drang, ein großes Bild schnell fertig zu malen, ist geringer geworden, und ich kann das zulassen. Da ist parallel oft eine zweite Leinwand derselben Größe bei mir in Arbeit, wie es ja überhaupt weitere Interessen gibt im Leben, als bloß ein einziges Gemälde zügig abzuschließen. Wenn ich auf die Bildfläche draufschaue mit ihrer teilweisen Vorzeichnung, mache ich das genauso. Was man erledigen müsste, um weiter daran zu malen? So gehe ich nicht an die Arbeit. Ich überlege mir, wo ich die schlechteste, beziehungsweise die am wenigsten fertige Stelle erkenne und suche nach dem geringsten Aufwand, dort eine Verbesserung hinzubekommen. Ich male also nicht stumpf Bereiche farbig, weil sie noch unfertig sind. Ich suche nach einer Macke im Bild und stelle sie ab. Es ist so gesehen meine Macke, was gerade ich selbst als besonderes Individuum daran nicht mag. Dieses Vorgehen bedeutet als Fragestellung, ob ein Fehler auffällt und schließlich die Erkenntnis, dass genau dort etwas änderbar ist. So mache ich es grundsätzlich auch mit anderem. Ein Zitat passt dazu. Edward Hopper, so ist es überliefert, antwortete unwirsch auf die Frage, was das Bild „Sonne in einem leeren Zimmer“ bedeuten solle?

„Ich suche mich selbst.“

Was man an sich und seinem Leben ändern könnte, und ob das geht, wie eine Sache in Angriff zu nehmen wäre, beschäftigt nicht wenige. Das ist ein Grund für Kunst. Die Realität müssen wir oft hinnehmen. Die selbst gestaltete Bildfläche andererseits wird zur Spielwiese der eigenen Fantasie. Das ist unser Können als Künstler: Ein Regisseur oder Schriftsteller darf Flugzeuge nach Belieben abstürzen lassen. In der Kunstform Satire gelingt mir, die Politik lächerlich zu machen. Ich kann nicht Kanzler, aber mir das Maul zerreißen über diese Idioten. Ich will es schön herausarbeiten, Eindruck machen, meiner Eitelkeit genüge tun, es besser wissen. Im wirklichen Leben muss ich nicht in eine Wahlkabine gehen, und in eine Flugzeugkabine setze ich mich nach Möglichkeit nicht. Ich habe es genossen, die Welt von oben zu sehen. Heute frage ich mich, wenn ich in einen Zug steige, inwieweit der Zugführer das Geschehen beherrscht, mit höchstem Tempo dahinzurasen. Es macht mir Angst, weil so viele Menschen doch sehr dumme Leute sind. Es heißt also andauerndes Abwägen, dabei zu sein oder eine Sache abzulehnen. Ich möchte jeweils herausfinden, was zu mir passt und was nicht. So gesehen ist es klar besser, die nötigste Verpflichtung des Tages anzugehen. Sogar Ärgernisse, die es ohnehin zu beseitigen gilt, sollten einen wenigstens halbwegs spürbaren Lustgewinn bedeuten, diese Sache losgeworden zu sein. Wenn mich Unordnung stört, räume ich auf, sonst nicht.

# Intermission

Manche Bilder kann man nicht malen. Solche Motive bleiben nur ein Gedankenspiel.

Es ist Montag. Meine Frau sitzt vermutlich im Zug, kommt gerade zurück aus Stuttgart. Ich vertreibe mir die Zeit. Ich will nicht viel essen, sitze hier zu Hause in Schenefeld beim Italiener, bestelle nur Antipasti. Wir werden abends Wiedersehen feiern und gemeinsam essen gehen. Da gehört Hunger dazu. Zur Mittagszeit trinke ich ein Glas Wein im „Staddi“.

Ich probiere meine neue Brille aus, wie die so ist.

Ich habe sie gerade erst fertig vom Optiker bekommen, Gleitsicht. Ein Restaurant im Einkaufszentrum ist nichts Besonderes. Das Personal ist nett und seit Jahren unverändert. Man kennt sich, ist per du. Ich schaue, um zu schauen. Ich kann die Speisekarte lesen. Die Leute am Nachbartisch sind scharf erkennbar. Die Ferne, Menschen fahren Rolltreppe. Ich prüfe die Schrift auf den Werbeflächen im Hintergrund zu lesen. Ich lese: „Öffnungszeiten“. Das ist ein Hinweis auf den kleinen Aufstellern, die sich auf jedem Tisch befinden vom Restaurant. Kann ich’s gleich gut lesen auf jedem Tisch und in jeder Entfernung? Ich prüfe meine Augen, ich prüfe meine neue Brille.

Nermin fragt, ob es mir schmeckt, und ich bejahe. Sie ist lieb. Wir reden immer ein wenig. Ich schaue mir die Leute an. Das Restaurant ist mitten drin im Einkaufstempel. Kunstpflanzen bilden die Grenze. Einmal sehe ich Tanja und Philipp vorbei gehen. Wir winken. Von überall her kreuzen Menschen diesen Bereich. Ich schaue mir das an. Die Fremden sind allein oder als Paar unterwegs, haben Taschen dabei, sind eilig oder gelassen. Musik dudelt. Mir kommt es wie ein Film vor. Das Wetter draußen ist schön. Locker bewölkt und schon frühlingshaft warm. Ich bin im Pullover und ohne Jacke hergelaufen. Die Temperatur ist angenehm. Es weht kaum Wind. Man merkt es auch hier drinnen. Das Dach bildet eine riesige Glaskuppel.

„So ein herrlicher Tag, und ich muss gehen.“

Das habe Sophie Scholl vor ihrer Hinrichtung gesagt, heißt es. Es wäre ein schöner Tag gewesen, meinte auch Klaus Radner, als er zum Flughafen fuhr, seine Tochter abzuholen. So steht es im Interview und im Internet. Ich erinnere mich jetzt daran. Irgendwo fährt ein Zug durch Deutschland. Mir rinnen nun unaufhaltsam Tränen über das Gesicht, als ich denke, was ich nun denke. Es liegt nicht in unserer Hand was passiert, so oft.

# Was einer tun kann, der bei Sinnen ist

Eine nennenswerte Künstlerpersönlichkeit wird immer Dynamik an sich erleben. Die Umgebung entwickelt sich weiter, Künstler reflektieren und finden neue Ansichten, sie entdecken alternative Möglichkeiten in sich selbst. Die Freude darüber, malerische Probleme gelöst, eine Bilderzählung hinbekommen zu haben, teilen wir mit wenigen. Musiker erleben ja auch, dass man ihnen nur scheinbar zuhört. Bücher werden gekauft und ungelesen ins Regal gestellt usw. Trost bleibt im eigenen Schaffen: „Ich kann das.“

🙂