
Die Letzte macht das Licht aus
„Nordkirche verliert 66.000 Mitglieder“, ist eine Überschrift unserer Dorfzeitung, die für viele nicht überraschend kommt. Als möglichen Grund für die Austritte vermutet die Landesbischöfin zum einen die steigenden Energiepreise und Lebenshaltungskosten. Aus dem Schwund im vergangenen Jahr ergebe sich, dass die Nordkirche in den ersten zehn Jahren ihres Bestehens „um fast ein Viertel geschrumpft ist“, meint das Schenefelder Tageblatt. Im letzten Jahr habe es erstmals mehr Austritte als Sterbefälle gegeben. Beim Lesen dieser Zeilen scheint auch eine gewisse Ratlosigkeit der Landesbischöfin durch, woran das liegt. Es könne ein Nachholeffekt die Zahlen nach oben getrieben haben, weil während der Pandemie weniger Amtszeiten zur Verfügung standen, und das „mache ihr Sorge“, erfahren wir.
Kirche bildet die Gesellschaft nicht ab, das könnte die Bischöfin eigentlich selbst merken. Die evangelische Kirche im Norden kommt weiblich und nicht selten überaltert daher, hat einen Wandel vollzogen, raus aus der Mitte der Bevölkerung, wo unsere Religion gewesen ist. Dazu passt, dass immer mehr den kleiner werdenden Kreis verlassen. Menschen gehen dorthin, wo gerade ihre Anliegen und Bedürfnisse reflektiert werden. Die Kirchen machen Werbung, hängen Fahnen an ihre Gotteshäuser mit Sprüchen. Sie sind Gemeinden in Not, die um Mitglieder buhlen. Das wollen Orte sein mit Suppe im Angebot, nach welcher die Leute dürsten?
# Sie kochen am Herd der Gläubigen
Ein mit sich beschäftigter Verein glaubt scheinbar, dass Gott selbst reformiert ist, sich anpasst. Man darf einen Blick über den Tellerrand wagen. Weg vom Herd, Frauen kämpfen dafür. Jetzt wurde einer Angestellten das Recht auf gleiches Gehalt bei entsprechender Qualifikation zugesprochen, das ein männlicher Kollege derselben Firma verdient. Für ihr Ziel müsse sie klagen, meinte sie. Ihr Arbeitgeber rechtfertigte, der Mann habe besser verhandelt und scheiterte vor Gericht. Frauen möchten siegen über das Patriarchat? Entwickelte sich aus der nötigen Gleichstellung ein Kampf der Geschlechter und würde dieser von Frauen gewonnen, blieben am Ende Geschlagene wie auf einem Schlachtfeld zurück. Das wären wohl Männer im Sinne geprügelter Hunde, altmodisch: „Schlappschwänze“. Die evangelische Kirche ist in dieser Sache weit vorn und sollte sich freuen. Eine Insel mit Amazon*innen, die sich vom Festland löste und eine kontinentale Bewegung erzwungen hat wie die Briten im Brexit. Man treibt unter sich hinaus auf das Meer.
# Isolierte Trutschen
Schaut man auf die Website vom Gotteshaus in der Nähe, finden sich im Kirchengemeinderat drei Männer abgebildet neben sieben Frauen, welche optisch dem Typus „Kirchentante“ entsprechen. Die wenigen Männer gleichen anderen aus jeder Gemeinde in der Nachbarschaft, Teetrinker und Senioren, und wenn es doch jüngere sind, schwul. Wir erfahren: „Der Singkreis ist wieder aktiv“, ein weißhaariger Pianist zwischen Seniorinnen, die ein Notenblatt halten, möchte uns das glauben machen. In dieser Sparte liest man auch: „Die Jugendband rockt wieder.“ Die statischen Gestalten auf einem Bildchen konterkarieren die Bildunterschrift. Findet sich ein Foto mit Konfirmanden, erkennt man den Diakon erst auf den zweiten Blick unter seinen Lämmern. Die zarte Person ist hier gut aufgehoben. Es gibt einige Berufe in Deutschland, die Jungs nicht attraktiv finden. Krankenpfleger, Lehrer oder Pastor gehören dazu. Da braucht man keine Frauenquote. Männer meiden Existenzen, in denen weder Anerkennung winkt noch attraktive Bezahlung oder Perspektive.
Die Kirche in Deutschland hat nichts zu sagen, was der Gesellschaft von Bedeutung wäre. Sie erhebt ihre Stimme nicht gegen das Morden an der Ostfront. Man hilft Geflüchteten wie es auch andere soziale Verbände tun. Die Katholiken sind mit sich selbst beschäftigte Pädophile scheinbar. Evangelisch sein bedeutet heute, vertüddelte Frauen ohne Plan anzutreffen, möchte man meinen. Wir bräuchten diese Vereine nicht. Unser Herrgott ist selbst längst ausgetreten, bin ich mir sicher. Eine Randgruppe umkreist den eigenen Kosmos. Schöne, historische Kirchen in den Städten und oft hässlichen Betonraketen aus den Siebzigern in der Provinz: Das hat keine Zukunft. Es sei denn, der Krieg findet bald in Deutschland statt, wenn die Ukraine in Schutt und Asche liegt, die Frontlinie bei Berlin verläuft. Dann werden sich die Kirchen füllen mit verängstigten Menschen, die Gott suchen. Solange wir eine Wohlstands- und Konsumgesellschaft sind, haben wir es nicht nötig, in Gemeinschaft zu glauben. Wir überlassen das Frauen und Spinnern, ist weitverbreitete Ansicht.
# Eine kleine Geschichte
Mir fällt dazu ein Erlebnis ein, das war in einem Frühjahr noch vor Corona. Es gab eine lockere Zusammenkunft im Gemeindesaal hinter der Kirche, da wo auch der Kindergarten ist. Zweck der Veranstaltung war, Mitglieder einer muslimischen Glaubensgemeinschaft kennenzulernen. Wir kamen also in jeweils etwa Schulklassenstärke zu einem lockeren Treffen, den unterschiedlichen Glauben vorzustellen und uns miteinander bekannt zu machen. Da war ein noch junger Imam mit seinen Gläubigen und unsere Pastorin, einige vom Kirchenvorstand, verschiedene Mitglieder der Kirchengemeinde, Männer und Frauen jeweils beider Glaubensrichtung. Nach der Begrüßung schlug jemand vor, wir sollten uns durchmischt hinsetzen, gegenseitig besser kennenlernen. An meinem Tisch waren nur „welche von uns“, und ich ging zum nächstbesten Platz, wo, als ich mich hinsetzte, zwei oder drei Muslime aufstanden und ebenfalls wechselten. Kurzzeitig waren alle unterwegs und suchten sich andere Stühle, ohne recht zu wissen wie oder wohin genau das gehen sollte, weil man zu den jeweils Fremden wollte. Heiteres Gebrabbel füllte den Raum. Das machte, dass ich an einen Tisch geriet mit ausschließlich verschleierten Frauen, etwa sechs oder mehr, und die waren jung, so im Alter von Studentinnen. Obwohl komplett schwarz gekleidet, ließen sie ihre Gesichter kaum bedeckt, fingen gleich an, mir vergnügt Fragen zu stellen und waren ausgesprochen attraktiv! Das gefiel mir natürlich, eine rege Unterhaltung entspann sich. Das dauerte aber nur wenige Minuten. Dann kam unsere Pastorin, beugte sich zu mir runter, ein wenig verlegen. Sie fasste mich am Oberarm: „John, könntest du mal kurz mitkommen?“, wir gingen in die Eingangshalle vor dem Gemeindesaal.
Ich nahm an, wir würden noch einen weiteren Tisch ranschleppen?
„Ich weiß gar nicht, wie ich dir das sagen soll, aber der Imam hat mich gebeten, dir zu sagen, du mögest dich doch bitte an einen Platz mit Männern setzen“, druckste sie herum. Das fand ich amüsant und natürlich, das habe ich gemacht. Ich wählte nun also eine Ecke, wo kräftige Männer mit Bart mich fröhlich willkommen hießen. Als ich mich sparsam erklärte wieso, schmunzelten sie und freuten sich deutlich. „Komm gern zu uns!“ Das hätte ich gar nicht sagen dürfen, warum ich nun zu ihnen kam, wenn ich mich an unsere hochnotpeinlich berührte Pastorin gehalten hätte, die bloß keine Fehler machen wollte. „Ich bin offensichtlich bei euch Männern besser aufgehoben“, war mir leutselig rausgerutscht, als ich mir einen Stuhl nahm, und das kam gut an. Es waren gestandene Typen, die nördlich vom indischen Kontinent aufgewachsen waren. Jedes Mal, wenn ihr Imam den Propheten Mohammed in einem Satz namentlich erwähnte, während er von der kleinen Bühne zu uns sprach, zischelten sie eine kurze Antwort, wie es sich bei ihnen gehört.
Wir kamen gleich ins Gespräch, niemand war verlegen, und uns fielen reichlich Themen ein. Zwischendurch mussten wir pausieren und zuhören, wenn kleine Vorträge auf dem Podium unsere Aufmerksamkeit verlangten. Beide Glaubensgemeinschaften stellten sich vor. Wie das mit Christus sei, die Gewaltlosigkeit und warum diese von Mohammed weniger vertreten würde, der (nach Jahren der Demütigung seinerzeit) beschlossen hatte, Selbstverteidigung als rechtens zu empfehlen. Sogar derart heikle Themen wurden mutig diskutiert. Religion ist ja nicht nur reden. Mich faszinierte, die Muslime konnten sofort aus dem Stand singen. Niemand müsste dafür was einüben, schien mir. Die Männer hatten kräftige, wohlklingende Stimmen. Alle kannten das Liedgut und boten einiges. Die evangelischen Kirchenfrauen waren bemüht und verfielen auf die Armseligkeit, uns einige Weihnachtslieder singen zu lassen im Februar oder März, wo wir uns da trafen, weil niemand mal so eben wusste, Passendes drauf zu haben.
Überhaupt, was waren für Leute gekommen? Norddeutschland ist breit aufgestellt, alle möglichen Menschen leben und arbeiten hier. Hamburg gilt als Tor zur Welt, in jeder Hinsicht vielfältig strukturiert. Multikulturell ist unsere Gesellschaft, wirtschaftlich orientiert, modern, umweltbewusst. Viele sind politisch und ehrenamtlich engagiert. Mit einem breiten Spektrum von Kunst und Musik sind wir eine moderne Zivilgesellschaft. Generationenübergreifend schätzen Menschen hier soziale Integrität und demokratisch wie streitfreudig ist Deutschland ein tolles Land, das viele bewundern. Wir pflegen einen typischen Intellekt. Im Zentrum jeder Stadt ragen unsere Kirchtürme auf. In den Gemeinden aber sind die Gläubigen schon speziell. Weniger als die Hälfte der Deutschen ist noch in einer der beiden großen Kirchen katholisch oder evangelisch eingetragen. Von diesen Menschen betreten viele kaum ein Gotteshaus, stehen aktiv zu ihren Werten. Ein Ausschnitt vom Kuchen ist übrig geblieben: Der schmale Keil einer Pizza schmeckt immer weniger Leuten, die sich religiös bekennen und das gemeinschaftlich erleben. Die Masse spürt weder Gottesfurcht noch sucht sie Halt im Glauben oder fühlt sich durch Seelsorge behütet. Bei Problemen machen heutige Menschen eine Therapie. Viele basteln sich ihr eigenes Bild, und ist das schlecht? Es scheint, dass der alleinige Gott des alten Testaments sich bereits im Wirken von Christus teilte und immer mehr vervielfältigte mit jedem neuen Propheten. Eine Entropie des Glaubens im Sinne von Verfall, Unordnung oder Erosion sehen Bewahrer des Bekannten in jeder Reform: „Raus!“ Kritiker haben es heute schwer, an Bord mitzugestalten und sind nicht selten gezwungen, ihren eigenen Laden aufzumachen. Wir reden nicht mit dem Mund, sondern mit dem Smartphone. Das ist ein verbales Geschütz. Was ist der Mensch, wie könnte er besser sein?
Es war schlimmer, der Märtyrer Stephanus wurde gesteinigt und David litt unter Hetze. Heute sind wir im Rechtsstaat geschützt, kreuzigen niemanden. Gott ist nicht mehr nötig und möglicherweise nach Hause gegangen. Das könnte im Weltall sein. Hinter dem Mond leben, heißt manches zu verpennen. Dort sind welche versammelt, die den Herrn noch suchen. Gewalt ist verpönt, aber sie bleibt uns erhalten. Manche beten in der Not, wer weiß? Die digitale Methode fixiert in Wort und Bild, was früher nur so gesagt wurde. Und wie Transparenz ein Muss geworden ist, hilft, etwa Missbrauch aufzudecken, zerstört diese Dynamik auch manche Struktur. Die politischen Parteien haben ihr Gesicht verloren. Parteiausschluss trifft diejenigen mit zu viel Profil, anschließend ruft man nach fehlenden Ecken und Kanten? Wir werden uns damit abfinden müssen, weil es kein Kirchenproblem ist, sondern die Moderne mit dem sich wandelnden Bild von Gesellschaft. Das heißt aber alle Facetten mitnehmen. Wir sind kein in die Ecke geworfener Tuschkasten, ein vollgekritzeltes Blatt Papier, sondern ein richtiges Gemälde mit Rahmen, welches insgesamt Halt gibt. In dieser Reflexion bleibt mir Gott bunt wie sein Regenbogen, den er an seinen Himmel malte, den er schuf.
# Mein Trost ist farbig!
Die Muslime an diesem Tag im Gemeindesaal sahen allesamt fit aus, um es mal salopp auszudrücken, richtige Menschen, die im Leben stehen. Männer im besten Alter und schöne Frauen, auf die es natürlich aufzupassen gilt, nicht nur in der Kirche. Unsere Leute hingegen waren das verschrobene Klientel, wie man es kennt. Mehrheitlich ältere Frauen, ehrenamtlich unterwegs in der Gemeinde, so vertrocknete Tanten halt. Keine jungen Menschen, die wenigen Männer hinfällige Senioren oder zartbesaitet, mehr als fünf dürften da nicht gewesen sein. Ich war dieser einzige, eifersüchtig machende Mann, der höflich aber bestimmt umziehen musste.
🙂