Haben oder Sein

Beim Einkaufen treffe ich eine Bekannte. Wir sahen uns längere Zeit nicht. Was die Kinder machen? Sie erzählt betrübt, eine inzwischen erwachsene Tochter scheine ihr krank zu sein. Verschiedene Ärzte könnten nicht helfen. Die junge Frau habe einen stressigen Beruf, kürzlich ihre Ausbildung abgeschlossen. Wir reden, während meine frühere Nachbarin eine Zigarette raucht und sind deswegen vor die Tür vom Einkaufszentrum gegangen. (Die alten Zeiten sind vorbei. Rauchen ist nicht mehr normal). Die Ärzte fänden nichts, sagt sie, obschon die Veränderung ihrer Tochter offensichtlich sei, so dünn.

Das muss nicht weiter erzählt werden, jeder kennt ähnliches. Sorgen sind vertraut. Manchmal bloß eine Essstörung, schlimmer wäre Krebs oder so etwas. Menschen haben Krankheiten, natürlich, wer will das bestreiten? Nichtsdestotrotz sind Probleme gelegentlich hausgemacht. Dann kann der Gang zu vielen Ärzten nicht nützen, und ich habe in dieser Hinsicht manches lernen müssen, was nicht allgemein bekannt ist. Malen hilft, aber nur dem Maler. Sport ist was für Sportler: Meine Auffassung vom Menschsein ist besonders. Das möchte ich facettenreich beschreiben. Auf diese Weise präsentieren sich unaufhörlich Bilder und Geschichten, wollen gestaltet werden und davon berichten, was ich lernte. Sich selbst nicht mehr im Weg stehen, löst manches Problem.

Die eigene Sprache, damit kann ich das Erleben katalysieren.

# Berühmte suchen auch

„Man solle den Kindern nicht immer sagen, sie wären etwas ganz Besonderes, wie das viele Eltern tun“, meinte Dieter Bohlen einmal. Man sei zunächst wie alle anderen und würde erst besonders, wenn man etwas Eigenes aus sich mache, wusste der Pop-Titan. Es ist Geschick nötig, sich abzuheben vom Mainstream. Aber man kann das überbewerten. Einige Zwänge loswerden und den ganz allgemeinen Weg nur ein klein wenig verlassen, bedeutet bereits, der Individualität nachzuspüren. Und tatsächlich gibt es Menschen, die damit schon als ganz kleines Kind anfangen. Nicht wenigen Eltern ist nicht recht, wenn „das Balg“ aufbegehrt. Papa bestimmt den Weg. Wie weit man kommt mit dem Besonderssein, hängt von mancherlei ab.

Meine Erfahrung ist, besonders zu sein oder sich individuell empfinden, meint nicht dasselbe, wie berühmt sein. Das sollte man nicht verwechseln nach dem Motto, erst mit der Anerkennung wäre man Künstler. Das könnte dazu führen, dass viel Zeit verschwendet wird zu gefallen. Etwas auf die eigene Weise tun und diese auch zu bestimmen, wie sie sein soll, befreit vom Zwang, alles machen zu müssen wie gewohnt. Nicht wenige verwechseln ihre zugegebenermaßen persönlichen Macken mit Individualität. Die wird aus unserem Handeln aber erst draus, wenn wir die Motive selbst wählen können. Der Begriff Querdenker wurde genutzt, um jemanden zu würdigen, der für seine Überzeugungen bereit ist anzuecken. Einzigartigkeit war gemeint und keine Meute, die kollektiv in verschworener Ablehnung von allem trabt. Soziales Verhalten wird inzwischen massiv eingefordert, dass einiges dazugehört, sich zu profilieren. Der Gruppenmensch (als neue Spezies) ist im Verbund stärker, dem es zu folgen gilt und entwickelt seine Denkweise entsprechend der gemeinsamen Schublade. Auf Dauer bedeutet solche Selbstoptimierung überzogenes Leistungsdenken innerhalb einer bestimmten sozialen Struktur, die nur scheinbar zu passen scheint. Mancher kollabiert, weil so jemand darauf hereingefallen ist, seinen Traum zu leben, der in Wirklichkeit ein vorgekautes Konsummuster nach dem Prinzip Franchise war. Den individuellen Geck aus sich machen, heißt nur Fassade kaufen und ist das Gegenteil von Selbstverwirklichung. Vor allem kommt es darauf an, Zwänge wahrzunehmen, die man sich genau genommen selbst auferlegt, weil man glaubt, ein Verhalten wäre gewünscht. Man bildet sich die Weisung gebenden Menschen ein. Der wirkliche Druck kommt gar nicht von außen. Es fühlt sich nur so an. Damit kann man psychische Probleme charakterisieren, außen und innen werden verwechselt.

Den eigenen Laden aufmachen: So etwas befreit nur, wenn das heißt, sich abzugrenzen vom Drumherum. Das kann man auch angestellt gegenüber dem Chef tun. Ein eigenes Geschäft schafft neue Probleme. Wechseln, raus aus den Verpflichtungen gegenüber dem bestimmenden Management zu gehen, führt in neue Beziehungen und damit andere Abhängigkeiten. Es meint zukünftig etwa mit Kunden, Lieferanten und Angestellten zusammen zu arbeiten. Selbst zu malen (oder für sich zu kochen), funktioniert nur frei, solange man kein Geschäft damit betreiben muss. Ist das klar geworden, bedeutet den eigenen Weg gehen, das Machen vom Verkaufen trennen zu können, jedenfalls vom Intellekt und Fühlen her gesehen als zwei verschiedene Befriedigungen. Raus aus der Tretmühle zu kommen, ist kein neues Motiv des Menschen. Viele namhafte Künstler suchten sich bekanntlich selbst, die persönliche Form. Edward Hopper hat das von sich gesagt.

„Der einzige wirkliche Einfluss, den ich je hatte, war ich selbst“, Edward Hopper.

Musik genauso, von Louis Armstrong wird berichtet, er habe auf Tour einen Reiseplattenspieler dabei gehabt mit hauptsächlich eigenen Aufnahmen. Auch in der Biografie „Dizzy Gillespie – To Be or Not to Bop“ findet sich eine passende Notiz. Es geht um Jazz, den damals modernen „Bebop“. Von Thelonius Monk wird die Anekdote überliefert, als Dizzy ihn fragt, was er da spiele, antwortet der Pianist: „Ich habe meine eigene Musik entdeckt“, sagt Monk, „und so mache ich jetzt weiter.“ Das hat er getan. Menschen sind individuell, manche benötigen länger, das an sich zu bemerken.

# Nie zu spät?

Es gibt eine Fernsehsendung (die ich nicht mag), sie heißt „Abenteuer Diagnose“, und so etwas verstärkt unsere Auffassung, man habe Krankheiten und müsse eben suchen wie ein Detektiv, bis ein Arzt gezielt weiterhilft. Dann wird diese Krankheit bekämpft. Darauf gründen die Erfolge unserer modernen Medizin, das kann niemand bestreiten. Deswegen lohnt sich trotzdem, einmal über den Tellerrand unserer allgemeinen Weisheit zu schauen. Wir könnten uns fragen, ob es um das Haben einer Erkrankung geht oder doch darum, wer wir insgesamt sind, geworden sind und eine Abkehr vom bisherigen Weg sinnvoll sein könnte? Das soll keine Haarspalterei der Begrifflichkeiten werden, Vorhandensein von Krankheiten generell negieren, nur bedeuten, einen neuen Standpunkt einzunehmen für eine alternative Sicht.

Von der „Psyche“ beispielsweise zu reden, schafft einen Bereich. Das kann zur Denkfalle werden, wenn wir den Menschen, um dessen Psyche es geht, übersehen. Ganzheitliche Medizin sollte mehr sein als ein schönes Wort. Junge Menschen entwickeln Perspektiven für die Gestaltung ihrer Zukunft. Sie sind nicht so festgelegt wie jemand mit Familie und vernetzten Strukturen, die sich mit den Jahren bildeten. Im Laufe des Lebens kommt einiges zusammen, was unsere Existenz betüddelt wie den Tannenbaum zu Weihnachten. „Früher war mehr Lametta“, ist zum geflügelten Wort geworden, und ich kann mich erinnern, wie es dran geworfen wurde an den Baum. Das macht man heute nicht mehr?

Es gibt die eine oder andere Mode, aber darum sollte es weniger gehen als um die Frage, was wir zum Leben dazu erwerben, manches aber mehr wie verwachsen mit uns ist und einen integrierten Bereich des Menschen bedeutet, der wir sind. Die Nadeln gehören zum Baum selbst, das Lametta ist Schmuck, so könnten wir fragen auch beim Auto, das wir kauften, im Unterschied zum Hühnerauge, das schmerzt. Haben wir das beides? Redensartlich lautet die Antwort ja, und ist das richtig verordnet? Wir sind ein Mensch mit Füßen, und ein Zeh hat die schmerzende Blase, wäre spitzfindig, aber überlegenswert bei der Suche nach einer Lösung. Schuhe sind keine Krankheit, können aber zu eng sein. Ein Auto, Kleidung oder Möbelstücke sind nicht mit unserem Körper verbunden, und dergleichen scheint eine Binsenweisheit zu sein. Unnötig ist, darauf hinzuweisen, einen Fuß nicht zu amputieren wegen kleinere Blessuren. Man geht zum Arzt, wird behandelt, das Auto wird repariert, wo ist das Problem? Man hat einen kaputten Vergaser oder einen Pickel am Arsch, denken wir, ganz das Gleiche. So einfach ist es aber nicht.

# Nachts auf den Straßen

Manche fahren den Wagen auf eine Weise, die besondere Bauteile verschleißt, die bei anderen lange halten. Auch was die Gesundheit betrifft, viele Beschwerden sind selbstgemachte. Psychische Krankheiten erfordern Therapie. So eine Anleitung möge unser Verhalten ändern, hofft mancher. Mal davon abgesehen, dass es gute und schlechte Ansätze gibt, ist bessere Anpassung an die Umgebung empfehlenswert. Wir können viele Ärgernisse (oder sogar Krankheiten) nicht bekämpfen, weil wir uns damit bloß weiteren Schaden zufügten. Schmerzen kann man nicht bekämpfen ohne das ganze System miteinzubeziehen. Den Tumor schneiden die Ärzte weg, aber bekämpfen sie damit den Krebs? Wie bekämpft man eine Depression? Der Schmerz, der Krebs, die psychische Störung, diese Leiden haben so viele Gesichter wie es Menschen gibt mit diesen Beschwerden. Beschwerden kann man nicht wegoperieren. Beschwerden ist nur ein Wort. Zu uns Gehöriges würde in einigen Fällen, wenn diese Bereiche unseres Selbst besser integriert würden, noch gut genug sein mitzuspielen, statt bekämpft zu werden und entfernt.

Schiffe, die sich in dunkler Nacht begegnen, wer kennt es nicht, diese verstörenden Momente? Manche fahren wie ohne Positionslichter, möchten nicht erkannt werden. Es tut weh, Menschen auf diese Weise zu begegnen, die wir kannten, liebten. Liebe ist nur ein Wort, und was wir daraus machen, individuelles Begreifen. Einem Phantom nachjagen, bedeutet wohl, das Ergebnis von Projektion zu suchen, aber mehr als einen Schatten in der Nacht treffen, genau zu erkennen, wer da vorüber huscht und doch nichts dran ändern können, tut weh. Dann kommt der Bus.

Sie steigt ein, fährt ab, und man selbst genauso geht seiner Wege.

Das neue Jahr kommt ohnehin.

Wir verstofflichen den Krebs, den Schmerz, Angst, die Grippe, unsere Psyche und übersehen gern, dass Begriffe, wenn sie verbal mit Dingen gleichgesetzt werden, in die Irre führen (als Basis jeder Theorie). Das mit dem Rauchen etwa; wir begreifen heute, wie schädlich Nikotin ist, aber es gibt vieles, von dem wir wissen, dass es uns nicht gut tut und machen es trotzdem. Fürchte ich einen realen Menschen und möchte dem nicht begegnen oder ist das Problem die Furcht an sich, macht einen gewichtigen Unterschied. Einen Plan zu entwickeln, Begegnungen mit gefährlichen Situationen aus dem Wege gehen ist nicht verkehrt, aber es sollte nicht heißen, vor sich selbst davonzulaufen.

Dazu kommen Verhaltensweisen, die unser Leben beeinträchtigen, von denen wir nicht mitbekommen, dass wir sie zu unserem Schaden oder mindestens zum Nachteil unseres Wohlbefindens tagtäglich draufsatteln auf unsere Aktivitäten. Bildlich gesprochen sind da freie und berittene Pferde im Rennen. Manche wissen scheinbar selbst nicht, dass andere für sie entscheiden, wohin sie laufen, wohin ihre Reise geht und dass sie bloß ausgenutzt werden. Menschen könnten ohne Ballast zufriedener sein, wüssten sie, ihn loszuwerden, und das heißt jetzt nicht, einen Tumor rausschneiden, sondern einige, ganz banale Überzeugungen aufgeben, sich anders bewegen (im Leben).

Bei Fremden sieht man es leicht, spottet.

„Was reitet den denn?“

Das kennen wir als abwertenden Spruch, und der kommt nicht von ungefähr. Das Wort fremdmotiviert ist bekannt. Es meint ebenfalls, dass einer nicht weiß, was er tut. Der Schlüssel zu mancher Verbesserung liegt weniger im Nachsinnen darüber, was zu tun ist, als sich zu fragen, wie man die Dinge angeht? Dass wir uns mehr bewegen sollten, ist bereits bekannt. Es gibt Ratgeber, die uns helfen wollen, richtig zu laufen oder welches Schuhwerk wir benutzen müssten? Selbst merken, worin sich unsere individuelle Weise, etwa die Füße zu verwenden, von der allgemeinen unterscheidet, wäre nötiger.

Wer lernt, auf sich zu achten, kann viele Probleme überhaupt erst als solche bemerken. Da lokalisieren sich Schwierigkeiten als zu integrierende Bereiche, die bislang nicht recht mitmachen. Jetzt zeigt sich Ansprechbares, Missachtetes, das sich freut, ernst genommen zu werden.

🙂