Nackt fahren
„Große Erwartungen“ – den bekannten Roman von Dickens las ich nie, der Titel fasziniert bereits. Warum wir hier auf der Erde leben, wissen wir nicht, aber wie: Die Naturgesetze und Regeln, unausgesprochene Umgangsformen bestimmen das Zusammenleben von Mensch und Tier. Kommunikation entscheidet über Nutzpflanzen oder Unkraut. Man bewertet Kunst und Geschmack, legt einen Mindestlohn fest. Papier wäre geduldig, hieß es früher. Behauptungen erheischen Aufmerksamkeit. „Mutter sein, ist keine Rolle“, erklärt uns ein Video. Andere finden: „My body, my choice!“ Menschen möchten ihre jeweilige Wahrheit allein durch Lautmeldung erzwingen, scheint es. Ob unsere Erwartungen der Realität insgesamt standhalten oder nur durch Wünschen am Leben gehaltene Ideale sind, isolierte Glaubenssätze einer wahnhaften Religion, zeigt sich manchmal spät.
Unser Dasein ist von Beziehungen geprägt. Wir haben Erwartungen an andere, die sich oft nicht erfüllen. Die Umgebung kann uns täuschen oder bloß eine Vision spukt im Kopf herum? Den Unterschied zu untersuchen und ungeklärte Zusammenhänge aufzudrüseln, erfasst nicht das Wesen, warum alles passiert. Es zeigt dem Suchenden, wie die Dinge genau geschehen und erweitert unser Bewusstsein. Das weist eine Religion in die Schranken, wenn diese mehr Glaube als Wissen verlangt. Die Realität kann im Widerstreit mit dem jeweiligen Narrativ der alleinige Gewinner sein. Wer eine Klimaidee oder christliche Lehren unter die Leute bringen möchte, muss sich hin und her schwappender Schwarmintelligenz entgegenstemmen. Das bedeutet, einen guten Deichschutz bereitzuhalten zur Wahrung des sensiblen Kerngedankens. So wehrt sich jedes System. Man grenzt sich ab, definiert, was zusammengehört, um den Bedürfnissen und Erwartungen, wo sie sich erfüllen dürften, folgen zu können. Ein Mensch sollte eine vergleichbar funktionierende Ordnung sein. Insofern findet sich im Hinweis auf „große Erwartungen“ zu Beginn der Story schon Elementares. Das ist nicht nur die Ankündigung einer spannenden Geschichte. Hinter nur zwei Worten öffnet sich eine Tür ins Erklärungsprinzip schlechthin für unsere Welt. Eine Formel könnte damit notiert sein und weist den Weg, über Annahmen nachzudenken, wie wahrscheinlich sie sind. Wer schließlich reflektiert und sich aus dem Wünschen oder Fürchten löst, was sein könnte – oder sogar müsste – und lernt, fixe Ideen über Bord zu werfen, tritt in ein neues Leben ein und wird frei.
„Große Erwartungen“, ein Fortsetzungsroman für die Zeitung ist das gewesen. Die Handlung wird beschrieben als „der Aufstieg eines Jungen zum Mann, der ein Luftschloss voller Wohlstand unter falschen Voraussetzungen erschafft“ (das schließlich wie ein Ballon platzt). Hochmut bringt ihn zu Fall. Vom Roman gefällt mir zunächst besonders der Titel. Der wird zum Schraubenschlüssel, um damit am eigenen Leben anzusetzen, rostige Bindungen zu lösen und neue Konstruktionen zu wagen auf einem besseren und stabilen Fundament.
# Meine kluge Freiheit
Unser Hiersein Unser Hiersein ist nur in der Beziehung denkbar und unsere körperlichen Spannungen stehen im direkten Zusammenhang zum Drumherum, mit dem wir dauernd korrespondieren. Menschen gehen ständig Beziehungen ein, auch zu Fremden, die man eben passiert, bauen wir eine kurze Beziehung auf. Wir probieren, uns darüber klar zu werden, wenn jemand vor uns auftaucht, ob der andere eine Gefahr darstellt? Wir möchten wissen beim anderen Geschlecht, ob die Möglichkeit Liebe gegeben ist. Eventuell wollen wir unser fremdes Gegenüber auch belehren. Irgendwas gefällt uns nicht, und wir drücken Missfallen aus während der kurzen Begegnung.
Erwartungen, die wir bereits bei einem simplen Spaziergang durchleben: „Moin!“, fordert ein anderer geradezu. „Hier sagt man guten Tag“, setzt der Mann nach und stapft weiter. Eine Frau reißt ihren Hund auf die andere Seite, weil sie annimmt, als Entgegenkommende müsste man die Begegnung so herum gestalten.
„In Deutschland geht man rechts!“
Über das, was den Sinn des Lebens bedeutet, gehen die Ansichten auseinander. Man kratzt am Warum, dem Wesen des Seins. Da muss eine ernsthafte Wissenschaft die Segel streichen, darf (und kann) nicht allgemein alles für alle erklären oder gar befehlen, wie wir leben müssten. Die Religionen haben probiert, uns nicht nur Gebote an die Hand zu geben, sondern diese noch verschärft und ein Sollen daraus gemacht. Was mal ein Halt gebendes Geländer sein mochte, wird dem Fanatiker zum Gefängnis. Zwei Positionen kennzeichnen unsere Wirklichkeit, Unterdrückung und Befreiung. Menschen, die sich manipuliert und in ihrer Freiheit beschränkt erkennen, finden den Sinn ihres Lebens, da raus zu kommen. Genauso kann man erwarten, dass eine Tätigkeit denjenigen ausfüllt, der diese gut zu tun lernt. Schon früh werden die nicht am Lernen interessierten Kinder ihre Mitschüler verarschen, denunzieren. Damit ist mancher Weg vorgezeichnet. Die Dümmeren sind viele nur in der Schule gewesen. Anschließend begreifen nicht wenige, wie es geht, Macht über andere zu erlangen. Man wird Polizist, Politiker oder Arzt und gibt vor, das Leben der Bevölkerung zu regeln. Leute bauchpinseln ihre Eitelkeit damit, vorgeblich zu wissen, was sich gehört, gut für alle ist. Druck auszuüben dominiert manche Partnerschaft.
Und so ist es im Großen, ein Machtgefälle schafft sich, wer das braucht.
Alle Männer seien gleich, nur der nicht, den man erst zehn Minuten kennt, beschreibt eine bekannte Schauspielerin das andere Geschlecht. Was können wir erwarten: Die Beziehung zur (Mutter) Erde ist die Gravitation. Wir müssen diese Rahmenbedingung akzeptieren, und alles Leben wird davon getragen, wie es sich dagegen auch zur Wehr setzt. Selbst wer nur im Bett liegt aufgrund einer Krankheit, muss sich drehen und wenden, um nicht wund zu werden. Wie viel anteilige Zeit ich nun intuitiv bin und spontan, wie umfangreich mir innere Alternativen für die nächsten Schritte in den Sinn kommen, kennzeichnet das Maß von Freiheit, das mir gegeben ist. Das betrifft unsere Fähigkeit, die eigene Muskulatur zu beherrschen. Könnte ich mich wehren, falls nötig mit einem Faustschlag oder Tritt, traue ich mich das, falls unumgänglich, gehört tatsächlich dazu, um ansonsten zivilisiert herumzuspazieren, wenn eben keine Gefahr droht. Lasse ich zu, mich machen zu lassen, dann kann ich wählen, was als nächstes drankommt und empfinde Zufriedenheit, lockere Kontrolle. Die meiste Zeit vom Zwang bestimmt zu sein, wäre das Gegenteil und könnte die Lebenswirklichkeit von Menschen im Gefängnis bedeuten oder welchen, die sich selbst dort einen engen Rahmen vorstellen, wo de facto Raum genug ist. Keine Wahl zu haben, macht Angst. Freiheit bedeutet, sich nur den Mauern zu fügen, die wirklich gegeben sind. Das ist wörtlich schon einmal die Beziehung zum Raum selbst. Ich gehe durch die Tür und nicht mit dem Kopf durch die Wand, akzeptiere mein Gewicht und damit die Gravitation, setze meine Muskulatur entsprechend ein. Und sofort spielen die Motivationen eine Rolle, weshalb man sich in Bewegung setzt. Ziele entwickelt ein Mensch in der Relation zu den anderen, mit denen jeder in Beziehungen verwoben existiert. Eine gewisse Kontrolle ist für ein entspanntes Dasein unumgänglich. Unsere Erwartungen an die Umgebung müssen an die Realität angepasstes Verhalten hervorbringen, damit Leben gesund gelingt.
Unsere Haltung, ob wir uns unnötigerweise der Welt entgegenstemmen, ein Trampler sind oder elegant den Weg beschreiten, zeigt gleich sehr viel. Wer immer die Schultern hängen lässt und latscht, meint vielleicht Gelassenheit auszudrücken? Andere erkennen doch, dass es nur Getue ist. Ein ausgebildeter Schauspieler mag wechseln können. Der Normale wächst nicht mal eben aus seiner Haut. „Sei selbstbewusst!“, können wir einander anspornen, aber auf Zuruf ändert sich niemand vom maulfaulen Griesgram oder unterwürfigen Feigling zum gelassenen Leader. Der bekommt allein durchs Auftreten Respekt, verschenkt die Größe seiner Nachgiebigkeit und schart Leute um sich, ihm zu folgen bei seinen Ideen.
Warum grundlos und verbissen kämpfen: Sexisten pauschal zu brandmarken oder aggressiv das Gendern einzufordern, macht die vermeintlich unterdrückte Weiblichkeit nicht per se frei. Das betrifft Männer wie Frauen gleichermaßen. Begehrenswert sind bewegliche Menschen, die spontan lachen können, aber stopp sagen, falls das Gegenüber zu weit geht. Natürlichkeit sollte dem modernen Menschen als Qualität gelehrt werden, die dem Zivilisierten schon mal abhanden kommt. Auf Zuruf gelingt das nicht in einer Welt, wo mancher meint, jederzeit noch alles sein zu können und den eigenen Platz ignoriert mit den gegebenen Beschränkungen von Raum und Zeit.
Das Problem beginnt dort, wo man nicht merkt, bloß unter Zwang zu funktionieren. Als den Wendepunkt in meinem eigenen Leben erkenne ich klar einen ganz bestimmten Augenblick. Ab diesem Ereignis änderte sich alles und vollständig für immer. Ohne detailliert zu erzählen, möchte ich zugeben, in einem Moment losgelegt zu haben ohne Alternative. Innezuhalten war definitiv unmöglich, obwohl ich genau erinnere, wie ich das erwogen habe – im Bruchteil einer Sekunde quasi – und begriff, jetzt oder nie gibt es kein Zurück. Ein Befreiungsschlag könnte man das nennen, gute Gründe, das Falsche zu tun. Zivilcourage in eigener Sache heißt in diesem Sinne, kriminell mit Ansage loszulegen in nur der vagen Idee, das könne gut ausgehen.
# Wer sich wehrt, bleibt nicht allein
Das Gute an spontaner Gewalt ist, dass diese berechtigt ist: In den Medien wird Aggression falsch dargestellt, weil die Autoren sich mit ihrem Gutsein brüsten wollen. Eine beherzte Ohrfeige ist allemal direkter, als eine umständliche Verbalisierung und insofern eindeutig. Mit dieser Behauptung wird ja die zerstörerische Qualität fortwährender Gewalt, die Menschen kränkt und dauerhaft schädigt, keinesfalls schön geredet. Ich meine den Reflex nach dem Motto: „Jetzt reicht es!“, nicht das gewohnheitsmäßige Demütigen Schwächerer. Dauerhafte Kränkung kann auch verbal erfolgen oder hintenrum manipulativ. Wer schließlich ausrastet und daraufhin schlägt, folgt dem Gedanke Notwehr. Dabei kommt es weniger darauf an, ein Gericht anschließend überzeugend auf diese Sichtweise an die eigene Seite zu ziehen, sondern vor allem auf die innere Einsicht, Reue zu empfinden – oder nicht. Bleibt das schlechte Gewissen aus, geschieht das wohl auch, weil die Umgebung auf beinahe unerklärliche Weise mitspielt und schon bald zu suggerieren scheint, richtig gemacht und gut so. Das müsste umgekehrt genauso sein. Wer also nichts merkt und gewalttätig seinen Weg mit voller Absicht oder im krankhaften Wahn hochmütig beschreitet, steht schließlich isoliert da. Abgrenzung und Isolation sind zwei verschiedene Paar Schuhe und doch die Seiten ein und derselben Medaille. Die Dosis entscheidet, ob gesunde Grenzziehung gelingt oder eine soziale Störung dominiert. Ein gut Teil Isolation ist unumgänglich für unsere innere Freiheit, die (so gesehen auch und sogar im Gefängnis) genügen dürfte, Entspannung bereitzuhalten wann immer dem Klügeren danach ist.
Menschen möchten wissen, was sie erwarten können. Einige verlieben sich immer wieder in denselben Typ scheinbar, aber Ähnlichkeiten täuschen. Wer anderen gleicht, wird deswegen noch nicht derselbe Mensch sein wie beispielsweise ein Geschwisterkind. Ihre Furcht in den Griff zu bekommen, weil die Kontrolle der Umgebung nicht wirklich gelingt, lässt manche einiges machen, was sonderbar erscheint. Das erinnert an den Witz vom Mann, der regelmäßig laut in die Hände klatscht, um, wie er sagt, die Elefanten zu vertreiben. Das habe ich bei Watzlawick gelesen.
„Aber hier sind doch gar keine Elefanten?“
„Sehen Sie“, antwortet der Mann.
„Es wirkt eben.“
Wir laufen gerade durch ein kleines Urlaubsstädtchen, das kann man wohl schreiben, weil hier im Winter wenig passiert. Jetzt drängen sich die Massen vor den Restaurants, die hier eines neben dem anderen die alten Fachwerkbauten in Beschlag genommen haben. Man atmet Backfisch. Pommesberge werden quer über den Laufweg serviert, der voll mit sich drängenden Touristen ist, und Bier schäumt in der Sommersonne. Rote Köpfe, dicke Männer in karierten Hemden schwitzen. Dazwischen zuckersüße Mädels und coole Typen, das ganze Spektrum inklusive Vollfamilien mit brüllendem Balg bereichert die Szene.
Wir erwarten das Glück, wenn wir erst verliebt sind, wenn wir heiraten, wenn das Kind da ist und so weiter. Manche Wünsche werden wahr, aber manchmal wissen wir nicht Bescheid, müssten selbst den Weg ebnen und klug sein. „An den Scheidewegen des Lebens stehen keine Wegweiser“, wusste Charlie Chaplin. Bei den vielen Fremden hier geschieht es mir immer wieder, dass ich meine, da wären Menschen, die vertraut und wie Bekannte aussehen. Dann sind es doch Fremde. Man fragt sich, ob da eine Hilfe drin besteht, eine Orientierung, was in einer Beziehung sein könnte mit jemanden, der früheren Erfahrungen eine Fortsetzung bietet nur wegen der Ähnlichkeit? Mir kommt Ralph Waldo Emerson in den Sinn, und zum ersten Mal verstehe ich diesen Satz:
„Die Natur reimt ihre Kinder niemals, noch schafft sie je zwei völlig gleiche Menschen.“
Gewalt wird nicht verschwinden. Böse Worte! Selbstgerecht sein, ist immer modern. Man erlebt gerade, egal wo, wie wohltuend das alle finden, auf Klimakleber zu schimpfen. Das funktioniert immer. Du sitzt irgendwo mit Zufallsbekannten und erwähnst die Proteste. Da ist die Reaktion von vornherein klar. Die drastischen Vorschläge, was zu tun mit solchen wäre, sind heftig. Dann noch ein wenig Spott über Ricarda Lang, und fertig ist die Welt gemacht. Man muss sich wundern, wie verschieden die Menschen auch sind, kollektive Ablehnung der Politik vereint uns. Wir sind alle Wutbürger. Da passt, dass die Gewalt in Familien ebenfalls zugenommen haben soll, seit Corona, wie es heißt, zur insgesamt derben Stimmungsmache rundherum. Mir gefällt, dieses böse Dauerthema einmal andersherum zu beleuchten – mit einer bösartigen Frau.
Menschen verlieben sich, heiraten, Kinder sollen das Glück vervollkommnen. Das ist unsere Erwartung. Manchmal kippt die Stimmung, und eine junge Familie lebt wie auf einer schiefen Ebene. Man rutscht ab, klammert sich aber fest, dem gewünschten großartigen Bild allerseits zu genügen. Das braucht Kraft und manche übertreiben. Sie werden laut, gewalttätig, um so noch die Ziele zu erreichen, die andere scheinbar locker anspazieren.
# Eine Geschichte beginnt hier
Diese Zeilen entstehen im Urlaub. Wenn das Wetter es zulässt, wird gebadet. Wir sind an der Ostsee. Bei durchwachsener Witterung ist alternativ Minigolf attraktiv. Hier bietet besonders eine größere Anlage auch für ganze Familien oder Jugendgruppen Vergnügen, weil das Spielen auf den fantasievollen Stationen abwechslungsreich ist. In die hügelige Wiesenlandschaft mit Blick auf das Meer wurde ein Park eingebettet, der seit vielen Jahren Spielspaß im Sommer bietet. Man trifft immer wieder mit denselben Leuten einer jeweils durch den Zufall bestimmten, anderen Gruppe zusammen, weil die meisten in typischer Reihenfolge die Bahn ablaufen. Alle haben einen kleinen Notizzettel mitbekommen für die erspielten Punkte. Weniger ist mehr: Man muss den jeweiligen Anforderungen mit höchstens acht Versuchen gerecht werden. Klappt das nicht, wird der Spieler mit neun Punkten bestraft, und weiter geht es. Ganz unterschiedlich sind die Stationen. Es gilt, eine Blechbrücke zu treffen oder durch einen Tunnel aus Reet zu spielen, einen Leuchtturm zu umgehen oder drunterdurch zu zielen, auf einer sich langsam drehenden Platte einzulochen oder einen Hügel trickreich zu bespielen. Manche nehmen alles leicht, wenn etwas nicht gelingt, und andere rasten schon mal aus.
Wir machen das seit Jahren, kommen immer wieder her. Anfangs war unser Sohn klein, und ich selbst habe wirklich schlecht gespielt. Wir hatten kollektiv oft Streit, gebe ich gern zu. Es scheint normal zu sein, dass die Stimmung in vielen Familien kippt, immer wieder zu eskalieren droht, wo das doch eigentlich ein lustiges Spiel sein soll. Golfen bietet schon deswegen ein gutes Lernfeld, den Wettkampf jedes Mal lockerer anzugehen als beim ersten Versuch. Inzwischen sind meine Frau und ich professionell vergnügt auf dieser Bahn unterwegs. Unser Sohn ist erwachsen und verbringt seine Zeit ohne uns. Der junge Herr erlebt und genießt seine Ferien anderswo mit Freunden. Wir Alten sind jetzt Könner und haben gelernt, leicht, mit vergleichsweise weniger Energie als gedacht, zielgenauen Schlägen, die bekannten Herausforderungen zu bestreiten. Wir streiten nicht. Das macht einfach nur Spaß.
In diesem Jahr wurden wir Zeuge von derber Auseinandersetzung in einer Familie.
Ein böser Streit. So haben wir das noch nicht erlebt. Es kommt immer wieder vor, dass Eltern ihr Kind verbal fertigmachen. In der Regel spielen diese Kinder tatsächlich schlecht. Solche armen Würmer erscheinen Fremden wohl (als dem peinlich berührten Beobachter) schon mal als ungerechtfertigt angeschnautzt, und sie können ja nicht weg. Meistens wirken diese Erziehungsmethoden standardisiert und kontraproduktiv. Man möchte ein leistungsfähiges Kind vorzeigen? Die smarten Eltern mit den gut spielenden Kindern, die es ja auch gibt, machen das ganz anders. Da sind schöne Menschen unterwegs, und diese spielen wirklich. Sie sind cool und erzielen beste Schläge. Das Wort von der Hässlichkeit beschreibt und beinhaltet auch das Unansehnliche vom Hass an sich. So gesehen – derartiges bemerkt man ja oft, darf das aber nicht sagen oder leichthin hier schreiben, ohne Kritik heraufzubeschwören – sind den Anforderungen weniger Genügende auch weniger schön. Meine Aufgabe ist, individuelles Erleben auszudrücken, finde ich, trotzdem genau meine Wahrheit deutlich zu machen als kreativer Bildermacher: Man sieht sportliche Männer mit ihrer schönen Frau und zwei süßen Töchtern etwa, die sich einen herzerfrischenden Schlagabtausch auf hohem Niveau liefern und dabei geziemt herumalbern. Es macht Spaß, in der Nähe derartiger Erfolgsmenschen unterwegs zu sein, weil wir alle davon lernen könnten, besser zu leben. Weniger unser Neid also, sondern wertfreie Beobachtung verhilft zur Selbsterkenntnis. In der Reflexion eigener Schwächen können wir über uns hinauswachsen.
Beklagenswert primitiv ackern sich manche durch den Parcours.
Daneben erblickt man auch so unauffällige Menschen, dass man solche Leute kaum bemerkt. Sie spielen einfach ihr Ding durch. Die mit uns und immer wieder in der Nähe aufschlagenden drei, von den ich erzählen möchte, sind ein Vater, die Mutter und ein noch unter zehn Jahre alter Sohn gewesen, zunächst ein nettes Grüppchen. Der Mann sprach wenig, seine Frau (und Mutter des wohl gemeinsamen Kindes offenbar) erwies sich als tonangebend. Das fand niemand falsch und fiel nicht weiter auf. Der kleine Junge spielte für sein Alter überraschend konstant gute Stremel. Er hatte die kiebige Schnute seiner Mutter, eine Angewohnheit, die Oberlippe zu einer Art Schnabel zu lupfen beim Sprechen. Die drei waren nicht unsympathisch. Diese Eltern rauchten gelegentlich nebenbei normale Filterzigaretten. Menschen, die mir gefielen, weil sie aussahen wie wir früher. Der Vater, mit Koteletten aber ohne Bart, ein schlanker Mann, gab sich als entspannter Typ, der keine unnötigen Worte macht. Eine abgenutzte Baseballkappe saß auf seinem Kopf. Einer, der auch schon mal Motorrad fahren könnte, stellte ich mir vor, aber zivilisiert. Die Mama hatte schärfere Gesichtszüge, aber hübsch, eine gute Figur und trat, wie schon beschrieben, extrovertiert hervor. Dieses Paar hatte die Mitte des Lebens wohl noch nicht erreicht. Es wurde gelacht. Das Kind erschien diszipliniert, aber keinesfalls unterwürfig. Insgesamt, möchte ich sagen, sehr durchschnittliche Leute, mit denen man aber gern eine lustige Bemerkung wechselt bei einem misslungenen Schlag.
Ganz überraschend eskalierte die Situation. Weiter ausholend, muss ich noch erzählen, dass meine vorangestellten Beschreibungen ungenau sind. Ich hatte mir die drei nicht näher angeschaut. Es geht mich ja auch nichts an, was andere umtreibt. Nun war mein Interesse doch geweckt, und meine kreative Lust lebte sofort auf, psychologische Befindlichkeiten herauszuspüren, als es zu einem lauthals ausgetragenen Streit kam. Hier zeigten sich in der jungen Familie bald echte Machtverhältnisse, und wie das exponiert auf freiem Feld in aller Öffentlichkeit breit ausgetragen wurde! Ohne Scheu vor den Leuten drumherum, also viel mehr, als gelegentliche Meinungsverschiedenheiten sein dürften, fiel das derbe Schimpfen dieser schönen Mutter allen, die es mitbekamen, wohl übel auf? Mit meinem anschließend der Streitigkeiten geschärftem Blick, fand ich den Mann und Vater des Kindes als demütig in einer Lage wieder, die sich so einfach und grundsätzlich offenbar nicht ändern ließ. Ich mutmaße, hier hatte sich die liebe Partnerschaft auf eine böse Weise verändert, wobei der altmodische Ausdruck Pantoffelheld ungenügend ist, den still gekränkten Ehemann damit abzuurteilen. Er mag es klüger gefunden haben, regelmäßig nachzugeben? Das will ich erzählen, nicht um Menschen zu belehren oder bloßzustellen, sondern als präziser Bericht möchten meine Worte verstanden sein.
Zusätzlich, bevor dieser Wutausbruch das Thema ist, muss ein fremdes Kind Erwähnung finden. Dieser Junge lief immer allein kreuz und quer durch das Gelände oder saß irgendwo im Gras. Er gehörte schon zu einer Bezugsperson: Da spielte offenbar eine Mutter mit ihrem Sohn parallel zu uns? Beide hatten mit den drei anderen nichts zu tun und beachteten einander kaum. Wir kannten das seltsame Duo ebenfalls nicht. Beim Warten auf den Beginn an der allerersten Bahn aber kam es zu einer charakteristischen Begebenheit.
Meine Frau hatte ihren Schläger samt Ball im Gras zu ihren Füßen liegen. Vor uns warteten reichlich Menschen, und wir dachten bereits, mit einer anderen Bahn anzufangen. Während wir noch standen und überlegten, griff ein kleiner Junge sich einen unserer Schläger und Ball, beanspruchte das Zubehör demonstrativ für sich. Wir probierten, ihm klar zu machen, dass das so nicht ginge, aber der Kleine hatte eine verbissene wie wortlose Gestik, uns zu bedeuten, damit nun, dieser seiner Beute, abzuhauen. Es kam zu einem beherzten, noch freundlichen Ziehen um den Golfschläger, weil man schon was unternehmen musste. Da gab er auf.
Erst später begriff ich diese Frau in der Nähe als Mutter. Sie hatte ein beständiges Lächeln im Gesicht, als wären weitere Teilnehmer einer Gruppe mit ihr da, die es aber nicht gab. Sie war allein mit dem Jungen und sprach diesen auch nur gelegentlich überhaupt an. Die beiden waren oft viele Meter auseinander. Der Sohn stromerte entfernt herum. Ein seltsames Gespann. Die Frau trug ihr dunkles Haar raspelkurz. Das hatte sowohl feministische als homoerotische Züge, wie auch die krankheitsbedingte Folge einer durchstandenen Chemotherapie könnte der Grund gewesen sein. Sie war klein. Einfach, ja beinahe schlampig wirkte ein weißes Shirt über der üppigen Brust. Untenrum trug diese, auf mich unsympathisch wirkende Person, eine farblich kontrastierende Hose in deftigem Lila. Kurze Stummelbeine, ihr tumbes Herumwatscheln, dieser Haarschnitt und ein wie festgenähtes Grinsen im Gesicht, das Kind auf eine Weise alleingelassen, was nach meinem Verständnis keinerlei Freiheit bedeutete, sondern schlichtweg falsch verstandene Erziehung darstellte; die mochte ich nicht.
Darf ich das so schreiben? Ich finde, man muss. Mit Entsetzen habe ich mitbekommen, dass Textstellen aus bekannten Romanen für Neuauflagen korrigiert wurden. Gewaltverherrlichung und diskriminierende Formulierungen wären nicht zeitgemäß. Etwa diese Beschreibung eines afrikanischen Mannes, „seine Brust, wie schwarzer Marmor glänzend“, sei eine rassistische Formulierung von Agatha Christie und wurde deswegen vom Lektorat getilgt. Das habe ich in einem Nachrichtenbeitrag gelesen.
Weiter trotzdem, jetzt kommt, wie das war, beim Spiel auf dem Rasen mit diesen Leuten. Da gibt es eine Bahn mit Wasser zu durchqueren. Diese Anlage folgt auf die vorherige Wassermühle und befindet sich im Bereich eines kleinen Flüsschens. Es ist der weiter gehende Auslauf durch das Gelände. Das Wasser wird durch glatte Kiesel geleitet, die fest im Grund wie Kopfsteinpflaster zu beschreiben sind, also größere Steine, wie beim Straßenbau und keinesfalls lockerer Schotter. Definitiv glitschig sind diese Dinger. Das Wasser ist flach, nur ein paar Zentimeter, dass die Steine bedeckt sind. Eine Breite von wenigen Metern weitet sich, und man schlägt also hier ab, um drüben ins Loch zu spielen. Dabei erlebt man für gewöhnlich, wie der Ball das Wasser nicht überfliegt, sondern in dem Minisee zwischenlandet. Man braucht schon einen oder sogar mehrere Schläge, ihn weiterzutreiben. (Dafür ziehe ich regelmäßig meine Flipflops aus, ich kenne diese Stelle ja bereits, aber manche gehen einfach mit Schuhen in das Wasser. Es ist Sommer, und wenn man vorsichtig ist, taucht kaum mehr als die Sohle ein).
Nun spielten die Eltern mit dem kleinen Sohn. Den ersten Schlag machte der Mann, also die erste Serie wurde bei ihnen immer vom Vater ausgeführt. Der wortkarge, dünne, große Cowboy auf einer imaginären Landstraße vielleicht unterwegs, träumte sich weg mit seiner gelegentlichen Zigarette cool im Mundwinkel. Er spielte für gewöhnlich gut, hatte aber jetzt Pech. Der Ball flog zu weit. Ich glaube, das Wasser war nie sein Problem. Ich habe anfangs nicht aufgepasst. Es kann sein, dass dem Mann eingefallen ist, diesen Ball zu lupfen und in hohem Bogen mit einem einzigen Schlag komplett über den Teich hinweg zu donnern. Weit über das Wasser und ein für alle Mal gleich auf die andere Seite schlagen, ist hier keine gute Idee, wenn man das nicht gerade kann. Verlässt die Kugel eine Bahn, haben wir jeweils von vorn zu beginnen. Das war jetzt der Fall. Seine Frau preite ihn an zurückzukommen. Der Hobbygolfer hatte wirklich übertrieben. Er suchte den Ball im Gebüsch. Die bunte Kugel war nicht wiederzufinden. Das hielt den Verlauf von allem auf, und seine bislang vergleichsweise liebe Partnerin reagierte zunehmend ungeduldig. Sie entschied, der kleine Sohn solle schon mal spielen, dann käme sie selbst dran und ganz zum Schluss könne ihr Mann, dieser Dussel (und Idiot) mit ihrem eigenen Ball einen abschließenden Versuch machen. Mit uns warteten einige dranzukommen, und insofern war es eine gute Idee.
Jetzt komme ich nicht umhin zu beschreiben, dass die ganze Zeit, während diese Leute vor uns ihr Spiel zu machen hatten, das erwähnte fremde Kind wie zeitvergessen, seelenruhig mitten im Schussfeld gegenüber vom Teich auf dem Trockenen saß, als wäre das sein privater Gartenplatz. Das störte deutlich, weil man den Jungen ja nicht treffen durfte. Keiner fühlte sich zuständig, ihn zurechtzuweisen, also Bedingungen zu schaffen für ein gefahrloses und lustiges Treiben. Seine Mutter war wie gewohnt nicht leicht zu entdecken, ganz wo anders, und wer wollte loslaufen, die zu ermahnen, sie müsse ihr Kind wegholen? Gut möglich, dass ich überhaupt einer der wenigen war, der diese Frau als zugehörig begriff wegen der Sache mit dem Schläger vorhin. Meine Aufgabe sah ich nicht, ihr Bescheid zu geben. Wir warteten mit den anderen.
Nun sollte es weitergehen.
Die Familie schickte ihren Sohn an den Start und ignorierte das fremde Kind. Es machte das Spiel komplizierter. Wohl deswegen, unter den lauten Anweisungen und genauso, weil der Junge noch klein war für seine sonst beachtlichen Fähigkeiten, scheiterte er im Graben. Er stürzte auf den glibschigen Steinen, fiel platsch ins Wasser und saß voll drin, wo er herzerweichend brüllte.
Der hatte sich richtig weh getan.
Was nun folgte, spottet jeder Beschreibung. Die Mutter tröstete nicht. Sie beschimpfte ihren kleinen Sohn, dass es zum Fremdschämen war, weil man es nicht verhindern konnte. Sie fand Worte, die ich so derb und ungerechtfertigt heftig, wie diese waren, nicht wiedergeben möchte.
Die Frau verlor jedes Maß.
Eine Furie, sie brachte Beschimpfungen an, die so böse wie deplatziert rüberkamen, dass es nicht zu fassen war! Dann weitete sie ihren Zorn auf den Ehemann aus. Wir erfuhren, was für ein Idiot das wäre, nicht nur, weil er seinen Ball in die Büsche geschlagen hatte, sondern grundsätzlich. Eine spontane Abreise, Abbruch des Urlaubs und Trennung wurden öffentlich und lauthals angeboten, gefordert. Das schon beinahe Faszinierende war, dem Mann fiel kaum etwas ein, darauf noch zu erwidern. Er antwortete sparsam und einsilbig, traurig und unterwürfig, durchaus resigniert. Er fragte, als hätte er den Chef vor sich: „Und was machen wir jetzt?“ Der kannte das schon. Das Kind genauso. Man brach auch das Spiel nicht ab, wie diese Mutter und Ehefrau es zunächst wollte. Das wurde nicht diskutiert. Die Frau stellte rethorische Drohungen auf, wie sie die Situation bewältigen würde und entschied gnädig, einfach weiterzuspielen.
Sie kriegten sich schnell wieder ein. Das Kind, zunächst noch auf finstere Weise beschimpft, der Sturz käme, wenn man nicht höre, durfte mit: „Fick dich, Mama!“, ähnliches Kontra geben. Das fanden sie nicht schlimm. Diese Leute spielten dann weiter immer einen Platz vor uns. Wir hatten Schwierigkeiten, ihnen offen ins Gesicht zu sehen und vermieden Gespräche. Wir taten, als wären die Luft. Intern funktionierte ihre Kommunikation erstaunlich stabil. Ich bemerkte aber, dass der Ehemann so cool nicht war. Er schien es gewohnt zu sein, verbale Demütigungen abzubekommen, und sie, die Mutter, lebte auf dabei. Sie badete in ihrer Selbstgerechtigkeit, dass es kaum zu fassen war. Es gefiel ihr, Macht offen zur Schau zu stellen. Noch befremdlicher fand ich, das Kind wirkte keinesfalls gebrochen, wie man das erwarten könnte, wenn ein hilfloses Wesen fertiggemacht wird. Der Junge war nicht hilflos. Er orientierte sich an der Mama und war die Ausbrüche offenbar gewohnt. Ein in sich funktionierender Kosmos. Gegen Ende der Bahn kam die Frage auf, wie man mit der nassen Hose im Fahrzeug klarkäme? „Wir ziehen dich aus“, meinte seine Mutter. „O ja, nackt fahren!“, sagte der Junge, als wäre es ein schon bekanntes Vergnügen.
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