Gesellschaft und Haltung

Als junger Erwachsener habe ich viel von Max Frisch gelesen. Das kam durch „Homo Faber“, wir hatten es als Projekt in der Schule. Ich las auch: „Mein Name sei Gantenbein“. Im Buch wiederholt sich der Satz: „Ein Mann hat eine Erfahrung gemacht, jetzt sucht er die Geschichte dazu“. Was das soll, habe mich seinerzeit gefragt? Es geht manches nicht original hinzuschreiben, ohne schließlich dann doch eine Geschichte draus zu machen. Ein wenig Theater ist immer dabei, wenn man schreibt. „Alles ganz eitel“, wusste schon Salomo, der Prediger, ein alter Bibeltext.

Max Frisch bleibt aktuell. Gerade erscheint „Stiller“ als Film im Kino. Die Rezessionen scheinen negativ auszufallen, wenn man das googelt. Es dürfte herausfordernd sein, aus dem Stoff einen Film zu drehen, das überhaupt zu wagen. Ich bin tatsächlich kaum noch im Kino gewesen in den letzten Jahren. Früher habe ich’s geliebt und auch viel gelesen. Seit einiger Zeit entdecke ich zu schreiben für mich selbst. Das ist anders als lesen, was konsumieren bedeutet, sich einlassen. Musik zu hören, ist ebenfalls nicht gleichbedeutend damit, welche zu machen, sie tatsächlich zu verstehen. Bilder zu sammeln, macht uns nicht zum Künstler. Das habe ich so von David Hockney gelesen, und es stimmt. Ich bin ein wenig bewandert im Geschehen rund ums Krankenhaus und drinnen am Bett, was da zu tun ist, gebe ich zu, kenne mich aus. Ich habe tatsächlich „Heldin“ im Kino gesehen, und es hat mich berührt. Etwas weniger dick aufgetragen an mancher Stelle, hätte diesen Film oskarreif machen können. Regie ist wesentlich für einen Film, nicht nur ein guter Plot oder fähige Darsteller machen alles zum Geniestreich. Ein guter Trainer kann den Fußballverein an die Spitze bringen. Ein besonderer Arzt rettet unser Leben, ein anderer ruiniert es vollkommen. Was schreiben? Man findet sein Thema, und das Geschehen kommt ja auch zu uns, drängt sich auf, darüber zu berichten.

Weniger als ein Ratgeber ist diese Sammlung meiner Texte also Erfahrung in Form von Anekdoten. Meine jungen Jahre nach dem Studium sind geprägt von zumeist hilflosen Versuchen, im Leben Fuß zu fassen. Als hochgelobter Student der Illustration mochte ich geglaubt haben, es ginge später im Beruf so weiter mit der Anerkennung durch die Wichtigen? Es kam anders. Das ging jedenfall voll in die Hose, mein Leben, kann ich sagen. Nicht allzu lang nachdem meine „Diplomarbeit“ fertig war, so hieß das seinerzeit an der „Armgartstraße“, und ich diesen Zoo für Begabte in die raue Wirklichkeit verlassen hatte, wurde ich krank, aber richtig. Es ist bitter, in Ochsenzoll aufzuwachen, und Piet sitzt da, fragt:

„Was machst du für Sachen, Johnny?“

Heute, einige ähnliche Episoden später, verstehe ich den Frisch besser. Schreiben hilft schon mal. Das ist ein Thema: Meiner Auffassung nach verzettelt sich die Psychiatrie und hilft der Gesellschaft insgesamt, ein grundsätzliches Theater aufrecht zu erhalten. Die Ärzte beschädigen dafür ihre Patienten nachhaltig, um selbst Anwürfen standzuhalten, die es möglicherweise geben könnte, wenn sich jemand, den sie betreuen, vorsichtig gesagt, daneben benimmt.

Es stimmt nicht, dass man krank ist und die Psychiater gute Helfer sind. Das Ganze ist komplizierter und einfacher zugleich. Es ist üblich, alles zu verdrehen in dieser Realität der Worte, die welche wie ich noch nicht so ganz verstehen. Manch’ anderer, der so tut als ob, versteht das Leben aber genauso wenig. Es ist scheinbar ein wenig Glück dabei, sich schlau zu fühlen –, und es doch nicht zu sein, glaube ich. „Das Peter-Prinzip“ will uns darauf hinweisen, wie es angehen kann, dass Inkompetenz regiert und der „Dunning-Kruger-Effekt“ probiert darzustellen, wie Menschen mehr von sich halten, als gut ist. Nicht alle werden krank, die sich selbst verfehlen. Mir geht es um einige Erkenntnisse, die nützen könnten, sich gesünder zu fühlen, also nicht angepasster aus der Sicht der Allgemeinheit, sondern selbstbestimmter. Wir schlagen uns rum mit einer Vielzahl von Diagnosen in der Medizin. Das könnte nachteilig für die Patienten sein, weil es eine Verallgemeinerung von Beschwerden bedeutet und einen von individuellen Problemen Geplagten von sich selbst entfernen dürfte.

Im Pinneberger Tageblatt findet sich ein ganzseitiger Artikel gleich vornan. Eine Frau wird porträtiert. Die Überschrift: „Ich will der Migräne keinen Raum geben“, und den Rest kann man sich denken. Es ist nicht nötig weiterzulesen. Da wird von einem Leben mit Schmerzen berichtet, zum Schluss ein bestimmtes Medikament beworben. Dieses Denken passt zur Aussage eines Freundes, die dieser wie nebenbei in einer Mail machte, es gebe Tage, da habe ihn „Mr. Parkinson“ voll im Griff. Die Migräne und Mr. Parkinson, da fehlt nur noch eine schmerzliche Liaison und endlich eine Hochzeit unter Tränen? Mein Arzt erklärte es seinerzeit ähnlich: „Wir wollen verhindern, dass die Psychose wiederkommt.“ Hier werden Begriffe personifiziert. Wie anfassbare Leiden bekommen bloße Etiketten ihre handfeste Gestalt. Das ist falsch.

Wer so denkt, verewigt seine Probleme, die Schmerzen. Schmerz etwa (eine beliebte Floskel führt in die Irre) kann man nicht bekämpfen, weil es keinen Schmerz gibt ohne den Menschen, der diesen Schmerz an sich erlebt. Meine Schmerzen sind nicht deine, wie auch meine Erinnerung nie an andere übertragen werden kann, obwohl wir vom „Gedächtnis“ reden. So dürfte die Seele nicht erkranken, weil es keine Seele gibt. (Die Kirche ist schuld an mancher Blödheit, die wir heute noch immer erleiden). Körper und Geist, das kann man hinschreiben, aber deswegen, weil wir das eine anschließend dem anderen sagen, lässt sich dieser Verbund real nicht trennen. Wer so therapiert, arbeitet mit seinem Werkzeug wie einer, der bloß Luftgitarre spielt. Man kann gar keine Psychotherapie machen, weil keine Psyche solo herumläuft.

Sich wichtig tun, die kausale Kette erklären, erhebt den so Sprechenden nach ganz oben. Der Arzt kennt die Ursache? Er ist der Kommissar, der einen Fall löst, so möchte der Doktor im weißen Kittel gern gesehen werden. Die Bildzeitung und ihre Leser sind das Niveau dieser Denkweise. Unzählige (billige) Fernsehproduktionen zeigen, wie unsere Gesellschaft tickt. Der „Tatort“ ist Kult, aber auch vor dem Abend passiert dasselbe. Von „Waschpo Berlin“ über „Rosenheim-Cops“ bis zu „Notruf Hafenkante“ oder nebenan rüber ins „Großstadtrevier“ zappt der dran Interessierte und weiter in „die jungen Ärzte“, „in aller Freundschaft“, alte Folgen der „Schwarzwaldklinik“ oder „Bettys Diagnose“. Schön auf der Suche nach dem Täter, der Ursache ist unsere Methode, sind wir unterwegs, die Welt zu verstehen.

Man kennt es so.

Die Bildzeitung bringt eine Serie zum Thema Schlaf. „Das passiert bei zu wenig Schlaf“, ist die Überschrift. Von der Macht des Schlafs ist die Rede und dass viele sie unterschätzen. Es ist anzunehmen, eine Reihe von Erkrankungen werden auf Schlafmangel zurückgeführt? Genauso könnte man sagen, dass eine Menge Krankheiten das Symptom Schlafmangel verursachen. Das nützt nur dem, der so etwas sagt. Wer’s glaubt, kann bald gern die unzähligen Pillen probieren, die ebenfalls vor acht angepriesen werden. Ein Pflaster für den Darm, gäbe es, wird behauptet, Neurex-Soundso fürs Schlafen, wird empfohlen oder Harnstopp-Sonstwas fürs Nachts-Nichtpissen und mehr davon. Zefa-Gefasel für neurotische Weiber und Salben für rheumathische Senioren, dazu Ginko zum Erinnern, was man einkaufen wollte? Das ist unsere Konsumgesellschaft. Sie zeitigt unendlich viele Zivilisationskrankheiten.

Mir hat vor Jahren ein Chi-Gong-Lehrer gesagt, meine Migräne käme vom Magen. Bald habe ich einige Male chinesische Medizin, Akkupunktur bei ihm erhalten. Das hat gar nichts verändert. Im Gruppengeschehen mit jungen Schülerinnen und Schülern wie mir (damals) zeigte der (kaum ältere) Kursleiter uns die Macht des Chi. Er formte seine Hand zur Zeigefinger-Pose, wie man die Pistole imitiert. Damit wies er erst bei sich, um es vorzumachen, und dann bei anderen von uns auf die Handinnenfläche der fremden Hand. Da blieb ein kleiner Abstand der Fingerspitze zum gegenüberliegenden Handteller. Trotzdem fühlten wir, die einen mehr, die anderen weniger (überzeugt), eine Art Berührung. Das gab den scheinbaren Strahl einer mysteriösen Energie, die eine punktuelle Empfindung in der hingehaltenen Hand erzeugte. Damit konnte dieser sympathische Mann Eindruck machen, uns das zu zeigen, auch bei den Mädchen im Kurs. Das zu begreifen, hilft mir heute weit mehr als irgendwelche chinesischen Nadeln (die vermeintliche Spiritualität, dieser ganze Teetrinker-Blödsinn der gruppenweise sich versammelnden Auf-einem-Bein-Steher).

Die vielen Bezeichnungen von Krankheiten nützen dem Arzt. Dem Kranken helfen diese Worte wenig. Im Bereich der „richtigen“ Krankheiten erzielt der Internist oder auch ein Chirurg gute Ergebnisse. Heilung heißt in solchen Fällen, die Struktur direkt zu korrigieren. Bei psychischen Erkrankungen muss die Funktionalität im Alltag verbessert werden, das Verhalten. Das erreicht ein Helfer nur, der auch weiß, dass gerade dies möglich gemacht werden muss. Da wachsen keine Knochen zusammen, und dann ist jemand heil. Bei psychischen Erkrankungen gibt es kein Virus, das behandelt wird, bis es nicht mehr im Körper nachweisbar ist oder eine bakterielle Verunreinigung, die weg muss, einen Tumor, den wir zerstören. Dem Psychiater steht nicht die Operation eines falsch arbeitenden Gehirns zur Verfügung als eine Möglichkeit, jemanden direkt „zu heilen“. Wir müssen hinnehmen, die Wege des Erkrankten zu analysieren, die dieser beknackterweise einschlägt (zum Schaden seiner Person und anderer), können anschließend probieren, sein Verhalten zu korrigieren. Manchmal gelingt es. Man redet. Viel mehr ist’s ja oft nicht, dazu Pillen schlucken. Bitter, wenn Gewalt im Spiel ist. Die möchten wir als Gesellschaft verhindern. Die psychiatrischen Gutachten bei Tätern etwa, deren zukünftige Verbringung entschieden werden muss, bleibt das Lesen von Kaffeesatz, der Blick in die Glaskugel, wie man es auch nennt.

Psychiatrische Erkrankungen sind von zwei Polen dominiert. Es gibt Überreaktionen und Erschöpfung andererseits. Die Vernachlässigung der eigenen Belange geschieht durch zwanghafte Anpassung an die Umgebung. Daraus resultieren vielfältige Krankheitsbilder. Ginge man dazu über, soziale Störungen als die Psyche wie Physis gleichermaßen betreffende Probleme anzusehen, wären wir weiter. Behandlungen sollten auf die Intelligenz der Betroffenen bauen und darauf, wie nötige Klugheit wiederbelebt werden könnte bei den Kranken. Die Annahme, dass der eigentliche Störenfried die Gesellschaft selbst ist, die ihre Kranken erschafft durch Anforderungen, denen manche nicht gewachsen sind, die dann ein Trauma erleben, spricht schon aus der Diagnose „Anpassungsstörung“. Das Wort selbst ist ein Stempel, der erdrückend erfahren werden kann. Es bedeutet ein Stigma zu erleben.

Leistung erbringen, von der einer fälschlicherweise annimmt, diese würde genau wie angenommen erwartet, kann sowohl erschöpfen wie auch zu neurotischer Überreaktion führen. Und danach zu trachten, eine solche Neurose in jedem Fall effektiv vor anderen zu verbergen, dürfte eine weitere Vielzahl von Erkrankungen erklären, die alle der hilflose Versuch sind, Angst zu kaschieren. Ärzte aber werden sich hüten, das Ausleben von Angst bei ihren Patienten zu befürworten. Ein neuerlicher Schub der dem Patienten typischen Reaktion dürfte wahrscheinlich sein. Also geht man in die gegenteilige Richtung und tüncht die Probleme im Lebensgemälde der Armen einfach über mit dem Medikament.

Mich erschöpft meine Selbsterforschung nachhaltig. Ich habe auch bereits mehrfach Überreaktionen gebracht, die einige schockieren. Es hat sich gezeigt, dass vielerlei kreatives Probieren, was ich also mit mir anstelle, erlaubt ist zu tun (im modernen Deutschland), und das ist ein Fortschritt. Ein gewisser Fatalismus kennzeichnet diese Einstellung, die immer mit einbezieht zu gehen, wenn’s nicht mehr auszuhalten ist oder Hilfe anzunehmen, auch das. So frei ist unser Wille nämlich gar nicht. Da mache sich niemand was vor. Wer mit großer Klappe richten möchte (und erklärt, was alles hier solle auf Erden), dürfte feststellen, wie es anders kommt.

Ich bin bereit, meine Existenz anzunehmen und erfahre jeden Tag, dass diese Haltung besser ist.

🙂