Der zufriedene Täter

„Erfolg soll nicht beeindrucken, sondern die enttäuschen, die auf dein Scheitern warten“, sagt – wenn es denn so stimmt, und das Zitat tatsächlich von ihm stammt – der amerikanische Schriftsteller Mark Twain. Der selbst Berühmte muss es ja wissen. Ein wahres Wort ist das schon, kann ich sagen aufgrund meiner besonderen Erfahrung. Beim Erfolg denken die Menschen ja zunächst an Geld, viel Geld und Macht (oder eine sonst wie großartige Leistung), aber es gibt auch unscheinbare Erfolgsgeschichten. So eine meine ich und könnte davon berichten, quasi eine Art Beweis erbringen, wie wahr diese Worte von Mark Twain sich anfühlen – für mich.

Menschen beeindrucken wollen, dürfte jedenfalls keine gute Idee sein für den Erfolg bei etwas. Insofern muss man sich mit dem zweiten Halbsatz beschäftigen: Sind da Menschen, die auf unser Scheitern warten? Gilt die Frage für jeden oder nur Exponierte, die ohnehin Neider anziehen? Ist man also prädestiniert, Gegner auf den Plan zu rufen, die (wohl eher hinterrücks) frohlocken, wenn man auf die Schnauze fällt? Das müssten wir uns fragen, wenn wir diesen Lehrsatz anwenden wollten, um unser Umfeld besser zu verstehen.

# Der schlimme Nachbar

Vieles prüft man nicht nach, schaut die Nachrichten, ist informiert, hört so manches, weiß ungefähr Bescheid. Es ist eine Tatsache, dass wir ständig eindimensionale Informationen über irgendwelche Geschehen konsumieren. Selbst wenn verschiedenene Stimmen zu Wort kommen, um einen Sachverhalt zu beschreiben: Es ist typischerweise kein juristisch ausgeleuchteter Prozess, dem wir vollständig beiwohnen, wenn wir irgendwo Teilhabe genießen, etwas mitbekommen.

Ein gutes Beispiel ist der erschreckende Tod eines Gerichtsvollziehers, von dem berichtet wird. Bis das Ganze vor Gericht landet, könnte Zeit vergehen. Es dürfte kaum noch Thema der Nachrichten sein. So gut wie keiner der Fernsehzuschauer wie ich vom gestrigen Abend wird sich die Mühe machen, weitere Informationen über die Hintergründe der furchtbaren Tat herauszufinden, am Ball zu bleiben und zu recherchieren, hinzufahren, sich vor Ort umschauen, im Gericht die Zeugen anhören. Das ist normal, wir lassen uns unterhalten mit Mord und Totschlag, essen unser Abendbrot. Die Medien schicken einen Reporter hin. Es gibt Filmschnipsel und harte Sätze fallen, wenn die Nachbarn vom Täter reden.

# Eine wahre Geschichte

Eine wahre Geschichte aber trotzdem eine Geschichte; das ist und bleibt jede Berichterstattung. Viertel vor sieben abends, gestern. RTL-Fernsehen gibt uns das schmerzliche Bild.

„Der mutmaßliche Täter, der gestern im Saarland einen Gerichtsvollzieher getötet haben soll, sitzt seit heute Mittag in Untersuchungshaft“, heißt es.

Eine Szene bleibt hängen bei mir:

Ich sehe auf einen Hof, die Kamera zeigt drei Personen. Rechts erkennt man den Reporter mit Mikrofon. Links ist ein Mann mittleren Alters oder jünger, jedenfalls der Partner seiner Frau oder Freundin, die in der Mitte steht. Ein kurzer Wortwechsel klärt so weit, dass wir verstehen.

Der Beitrag hatte mit einer anderen Einstellung angefangen.

„Polizisten bringen Kai Uwe M. zum Haftrichter. Dort wird der 42-Jährige die Messerattacke gestehen. Gegen ihn wurde bereits wegen räuberischen Diebstahls in einer Tankstelle ermittelt, auch seine Nachbarn haben ihn mehrfach angezeigt.“

Das sind also die Nachbarn, die wir nun zu sehen bekommen, denke ich. Die Frau antwortet auf die Nachfrage des Journalisten mit Mikrofon über das Verhältnis zum mutmaßlichen Messerstecher von nebenan.

„Ja. Der hat mir nachgestellt. Und das haben wir auch schon ein paar Mal gesagt, dass der Mann gefährlich ist.“

Ihr Partner ergänzt: „Der hat mich dann mit zwei Küchenmessern bedroht – also beziehungsweise hinterher geworfen.“

Schnitt.

Eine Wohnstraße wird gezeigt, parkende Autos.

„Ob Gerichtsvollzieher Christof J. das alles weiß, als er seinen Dienstwagen vor dem Mehrfamilienhaus parkt, ist nicht bekannt …“

So geht der Beitrag weiter.

RTL-Aktuell vom 26.11.2025.

# Integriert und doch vielen fremd ist Option

Menschen haben Streit miteinander. Wortwechsel werden schon mal heftig geführt. Man kennt das. Die einen zeigen die anderen an. Es kommt zu Handgreiflichkeiten. Einzelne in der Nachbarschaft haben den Ruf, gefährlich zu sein. Das gibt es überall. Wenn wir davon hören, sind wir bei denen, die sich aufregen über einen Spinner. Dem Berüchtigten gegenüber selbst eskalieren nur einzelne, die das direkt betrifft. Eine große Zahl an Mitwissenden trägt alles weiter. So bekommen auch wir davon mit. Der Gefährder selbst hört nie von den vielen, was diese über ihn denken. Er spürt es nur. Manche können nicht verbergen, wie sie über ihn denken, ohne es ihm je zu sagen. Es ist schade, die Geschichte wird nie aus seiner Sicht erzählt.

Gut möglich, dass der Gerichtsvollzieher mit ein wenig Glück doch unverletzt davon gekommen wäre?

„Na, na, bitte – beruhigen Sie sich –, bitte.“

Vielleicht hätte sich noch alles eingerenkt? Dann kommt so was nicht im Fernsehen. Das gibt mir die Hypothese, den Twain schließlich zu begreifen. Deswegen, man stelle sich vor, so ein Schlimmer mordet nie wirklich? Da wird bloß viel geredet. Die Nachbarn bauschen alles auf. Wichtig, wichtig und:

„Habt ihr’s nicht gehört?“

Es könnte einfach sein. Der angeblich so Böse integriert sich doch allmählich. Er kommt zur Ruhe. Der Verschriene lebt vergleichsweise harmlos, aber lustvoll spottend weiter nebenan und sagt, wo’s geht, freundlich guten Tag.

Das stört schon welche.

🙂