
Echte Grenze oder Mauer im Kopf?
Finnland hat eine lange Grenze zu Russland. Seit dem Überfall der Russen auf die Ukraine betrachten die Finnen ihre Nachbarn mit anderen Augen. Man beginnt, sich Gedanken zu machen und sondiert sensibel nach Osten hin, was dort geschieht? Auf der anderen Seite tut sich einiges: Stillgelegte Flughäfen werden reaktiviert, Kasernen modernisiert. „Russland rüstet entlang der finnischen Grenze erkennbar auf“, heißt es. Vor Ort beobachte man das mit Sorge und stelle sich auf Krisenlagen ein, schreibt die „Tagesschau“. Was eine Grenze ist oder sein kann, zeigt sich von Fall zu Fall verschieden. Wie sich die andere Seite definiert und damit die Grenzziehung deutlich wird, hat so viele Gesichter wie die Farben des Chamäleons.
Einige Beispiele und damit Denkansätze könnten nützlich sein.
Kein anderes Thema also: „Du darfst nicht mitfliegen“, ein 14-Jähriger gehörte zur Gruppe einiger Passagiere, die ihren Rückflug nach Deutschland nicht wie gebucht antreten konnten, weil der Kapitän der Maschine erst zur Abflugzeit entschied, das Flugzeug sei zu schwer für einen sicheren Start. Das habe ich in der Zeitung gelesen. Eine Mutter empörte sich, ihr Sohn (auf seinem ersten Alleinflug) wäre nicht mitgekommen, weil das Flughafenpersonal es mutmaßlich leicht fand, einen Teenager auszubooten, der sich aufgrund seines Alters kaum dagegen sträuben würde. Die Fluggesellschaft entschuldigte sich. Man möchte keine schlechte Presse, und die Familie dürfte eine Entschädigung bekommen haben. Davon abgesehen war der Junge nicht der einzige, der zurückbleiben musste, und wer wollte mit einem nicht flugtauglichen Apparat starten?
Menschen werden regelmäßig ausgegrenzt. Das ist ganz normal. Kinder untereinander entscheiden etwa auf einer Klassenfahrt im Bus: „Du darfst nicht neben mir sitzen.“ Es gelingt nicht bei jedem, ihn zurückzuweisen. Manche lassen sich nicht abwimmeln. Hier kann die Gesellschaft nie so weit korrigiert werden, dass grundsätzlich alle zufrieden sind. Nur der Einzelne selbst kann Stärke erlangen, wenn ihm klar wird, dass es andere gibt, die seltener übervorteilt werden und der Wunsch reift, sich die eigenen Rechte zu sichern, wo auch immer.
# Die Truman Show
Eine als Komödie bezeichnete Filmgeschichte noch aus dem alten Jahrhundert hat sich’s zum Thema genommen. Manche werden verarscht und wie im Zirkus vorgeführt, ausgebeutet. Der Film ist bekannt. Ausgrenzung zur Belustigung der Welt, und es geht noch schlimmer, Grenzziehung total. Man stelle sich die Truman Show mit diesem Ende vor: Truman erreicht die Wand, findet die Tür, kann diese aber, anders als im Film, nicht öffnen. Er begreift sein Gefangensein. Das bestätigt alle Überlegungen. Seine Paranoia wird durch diese neue Realität ersetzt. Truman, nun gesund, müsste in diesem alternativen Schluss aber einsehen, dass da kein Ausweg aus der Kuppel ist. Er könnte auf den Gedanken kommen zurückzusegeln und sein gewohntes Leben wieder aufnehmen? Man denke sich ein Zootier, das nichts von einer Verurteilung auf soundso viel Jahre weiß (wie ein typischer Gefängnisinsasse) und sich fügt.
# Nicht alle können ihre Vergangenheit ablegen, ihre Hautfarbe
Ein 14-Jähriger wie der, der nicht mitfliegen durfte, wird von seiner Mutter belehrt, sich das nächste Mal nicht abweisen zu lassen. Vielleicht gelingt ihm das? Menschen werden aus rassistischen Gründen abgelehnt und können nicht darauf hoffen, aus ihrer Haut rauszuwachsen. So ist es auch mit psychisch Auffälligen. Man stigmatisiert sie. Ihre Vergangenheit wird ihnen erneut vorgehalten, wenn sie einen Platz möchten, der ihnen mit dem Argument verwehrt wird: „Du bist Psycho.“ Wie bei der Ablehnung aus rassistischer Motivation, kann eine Zurückweisung hinter vorgehaltener Hand geschehen. Man sagt dem Abgelehnten nicht, warum es nicht klappte und ist im Gegenteil noch betont herzlich: „Das tut mir sehr leid.“
Das Begreifen dieser menschlichen Realität, dass die Leute lügen, dass man selbst eine Vergangenheit hat, die andere wie eine „falsche“ Hautfarbe ansehen, muss dem psychisch Erkrankten klarmachen, nur im Akzeptieren Gesundheit zu erlangen. Das werden wir nicht ändern, wer mit einem Nachteil losgeht, etwas zu wollen (was auch immer), hat größere Hürden zu bewältigen als einer, der diese Achillesferse an sich nicht kennt. Ein psychisch kranker Mensch kann nicht dieselbe Art von Liebe erleben, die ein „im Leben stehender Erfolgsmensch“ genießt. Sein Dasein erfährt so jemand immer im Bewusstsein, dass alle Vertrauten von seiner Schwäche wissen. Selbst mit einer Besserung über die Jahre bleibt diese Hypothek. Man erreicht, was die anderen von Beginn an draufhaben. Die Umgebung bewundert nur mit dem Munde: „Schön, dass es dir gut geht.“ Es klingt wie Hohn, selbst bei ehrlicher Anteilnahme.
# Zu-Hause-bleiben üben
Kann man sich einen Truman vorstellen, der, zurück in Seahaven, zum Terroristen mutiert aus Zorn, von allen schikaniert zu leben? Ich glaube schon. Denkbar ist ebenfalls Depression oder Suizid. Ein neues Drehbuch, und ist es glaubwürdig? Die geringste Chance auf Umsetzung hätte ein Skript, das dem Protagonisten auferlegt, lieb weiterzumachen:
„Guten Morgen! Und falls wir uns heute nicht mehr sehen, guten Tag, guten Abend und gute Nacht!“
Das fände niemand der Zuschauer gut. Die Sendung liefe nicht. So etwas würde abgesetzt. Ein Doofer, der seine Naivität bestens kennt, dürfte kaum noch interessant sein für andere. Die Erwartung ist dramatisch. Man hofft, wünscht, dass es kracht! Sei es, der Held bricht aus mit Gewalt, wird auf der Flucht erschossen oder eine ganz große Liebe rettet ihn. Alternativ, das traurige Thema: Der totale Zusammenbruch, völliges Verwahrlosen. Schließlich bringt die Hauptfigur sich um oder stirbt vollkommen vereinsamt. Das gäbe einen akzeptablen Plot. Ein Kunststück darin zu sehen, dass jemand einfach nur lebt und sich ins Schicksal fügt? Wie langweilig und noch dümmer, als die Albernheit seines vorherigen Lebens, würde man sagen.
Das wäre das Aus.
Keiner kümmerte sich noch um diese Truman Show. Das einmal lukrative Projekt würde zum verstaubten Ladenhüter, ein Lost Place. Die bezahlten Schauspieler spielten nicht länger mit. Das ganze System verlöre seinen Sinn und die bislang geheimen Zufahrtswege für das Team der blödsinnigen Kuppel über Seahaven stünden einfach offen. Keine Grenze mehr zum Rest der Welt, keine Verschwörung.
Ohne das kollektive Geheimnis rund ums Ganze wäre Truman Burbank weiter anzulügen vollkommen unnötig.
Der Protagonist könnte einfach nach draußen spazieren mit den anderen, die ihrer Firma gekündigt haben. Das würde nicht einmal bemerkt werden vom Rest der Welt.
Alle Wege stünden ihm wie nebenbei offen.
# Was hat das mit mir zu tun?
Ich war anders – früher. Ein Naivling, der fest glaubte, das Gute kommt noch. Ich habe gesucht und suche nicht mehr, das ist der Unterschied. Ich war an dieser Mauer, und keine Treppe ging nach oben. Eine Tür hat es da nicht gegeben. Ein mächtiger Apparat, wie bei Kafka, das ist spürbar, steht offenbar dahinter. Kein blauer Himmel mit lockeren Wolken jedenfalls, war auf diese Wand gepinselt. Die Mühe hat man sich nicht gemacht. Eine schmutzige Kante ist das und unendlich lang. Ich mag nicht mehr leben, ich muss leider, ist die bittere Erkenntnis. Ein vergiftetes Geschenk: „Friss oder stirb eben später nach unserer Folter“, so hat sich das angefühlt. Da ist kein Staat auf diesem Planeten, der es wert wäre, für ihn zu arbeiten, und kein Gott passt auf die verlorenen Seelen auf, glaube ich.
Ich bin dann einfach nach Hause geradelt, und insofern ist das der langweilige Schluss. Ein Don Quijote, der aufgibt, allein bleibt, die Mühlen mahlen lässt. Zurück mit einem müden Gaul durch die Auwiesen, ohne je den heiligen Gral gefunden zu haben.
Mir gibt diese Idee, gezwungenermaßen durch eine Kuppel begrenzt zu existieren, das nötige Denkmodell fürs zukünftige Leben. Ich habe keine Vision. Ich schaue gegen die Wand. Man denkt ja nicht immer dasselbe, braucht aber eine Möglichkeit, der individuellen Wut nachzuspüren, wenn diese sich in den Vordergrund drängt. Ein Künstler, der aufs Publikum verzichtet, um den größtmöglichen Schaden an der Gesellschaft anzurichten? Mehr als beleidigte Leberwurst: Miles Davis spielte seine Trompete nach hinten raus, den Rücken den Leuten zugekehrt. Er wollte kein Unterhalter sein. Das ist zuzeiten mein lustvolles Motiv, der totale Trotz. Erfahrungen verändern den Menschen. Tun sie es nicht, werden sich die Kränkungen wiederholen bis in alle Ewigkeit. Was kann einer tun?
Ein Ansatz muss her! Man entzieht der Gesellschaft, dem Land die Arbeitsleistung, seine besondere Kreativität. Ich gebe die Bereitschaft auf, die Demokratie mitzutragen, Steuern zu zahlen (weil man etwa Geld verdient durch den Verkauf ansprechender Ölschinken). Wohnzimmerbilder sollen andere malen. Überhaupt, sogenannte gute Dinge zu machen, ist nicht notwendig. Diese Pseudoziele. Ich kann behaupten, für die Umwelt zu handeln, fänd’ ich albern. Ich sage: „Die Erde kollabiert sowieso“ und mehr davon, mache mich lustig über Moralisten. Eine Form von Resignation, ich werfe mein Leben weg, die verbleibenden Möglichkeiten, ziehe selbst eine Grenze, baue die Mauer ins eigene Hirn. Kreativer Suizid durchs Einbehalten aller Kunst.
Das Vergnügen gemeinsamer Beschäftigung mit Freunden? Muss nicht sein. Das Ziel ist, allein zu bleiben, wo immer man es sich verkneifen kann, andere zu kontaktieren. Keine Kunstausstellungen besuchen, wenn möglich. Nicht Konzerte anhören mit Freunden, keine Grillparty gestalten, und nie wieder will ich das Kribbeln der Liebe erleben mit Ansage. Kein Mitmachen, kein wokes Gequatsche. Ablästern über die anderen, aber ungehört zu Hause, Selbstgespräche. Dann noch glücklich sein damit? Das glaubt mir keiner, will niemand wissen. Totenruhe quasi. Das ist auch gut so. Ich kann fröhlich tun, und das glaubt mir jeder.
Diese Lüge kommt an.
# Bilder in der Kammer
Meine Grenze ist selbstgemalt. Das macht es leicht, mit dem Pinsel drüberzugehen und auch selbst. Ich bin schon unterwegs, und Mauern kenne ich nicht mehr. Der Plan liegt auf dem Tisch, individuelle Themen, nur eigene Projekte, keine Aufträge oder Wünsche einer Gesellschaft erfüllen, die nur an sich denkt, aber allen das Sozialsein abfordert. Niemand redet mir noch rein, was da gemalt wird. Es gibt weder Abgabetermine noch Auftraggeber, keine Präsentation, kein Verkauf. Das ist Gegenwart im Hier und Jetzt, kennt keine Zukunft. Und: Man kann jederzeit abtreten aus einer Welt, die einen nicht braucht.
Zurück in die Anonymität, dabei weitermachen, kann das überhaupt gut gehen oder ist es gerade eine gute Idee? Es lohnt, das auszuprobieren, wenn man eine Kunst kennt, die auch ganz allein getan werden kann. Wer seine Beschäftigung gefunden hat, die ohne Partnerschaften funktioniert, könnte das können? Mehr als eine Übung muss es schon sein. Ein ausbaufähiges Projekt und eine progressive Denkübung für jeden Tag. So wie einer als Musiker Tonleitern spielt, um fit zu sein, bevor man überhaupt raus geht auf die Straße.
🙂