
Vermasselt
Noch gut vor Ende meines Studiums führten wir „Sweet Charity“ das erste Mal öffentlich auf. Das war im Amerika-Haus. Es lohnt, ein wenig davon zu erzählen, eine wunderbare Zeit. Das erste Musical, weitere sollten folgen. Es war maßgeblich ihr Einfall, Leute für diese Idee zu finden: Imke hatte ich in der S-Bahn kennengelernt. Es stellte sich raus, dass wir beinahe Nachbarn waren. Sie probierte irgendwas mit Grafik und war gerade aus Italien zurück. Ein ganzes Jahr hat sie da gelebt. Acuro, glaube ich, hieß der Papagei, den sie mitbrachte; oft war ich dort wenige Häuser nebenan ganz oben im Penthouse. Wir wohnten noch bei unseren Eltern. Es gab einen großen Hund, Leslie, und der war schon alt. Er stank aus dem Mund. Die Katze, deren Namen ich nicht erinnere, brachten wir einmal gemeinsam zum Tierarzt. Damit sich das operierte Tier nicht selbst verletzen konnte, sollte ein Geschirrhandtuch mit vier Löchern für die Beine versehen werden. Die Pfoten gehörten hindurchgesteckt. Dann hatten wir die Aufgabe, das Tuch über dem Rücken zu verknoten. Nun wäre der Bauch geschützt. Das war uns vom Arzt aufgetragen worden. Die Katze war damit nicht einverstanden, kratzte bei der Aktion, bis meine Hände bluteten.
Imke hatte ein schmales Zimmer zur Straße hin. Wir übten zu singen, hören und schrieben Texte raus. Es gab keinen Lyricfinder. Musik befand sich regelmäßig noch auf Schallplatten. Die waren durchaus normal. Meine neue Nachbarin und ich weniger, wir mochten die Musik unserer Eltern und gingen zusammen los, die Old Merry Tale Jazzband anzuhören. Am ersten Freitag im Monat war die Fabrik unser Ziel, bald der Container auf dem Großneumarkt, bis der Cotton Club renoviert war. Vorher Krabben in Knoblauchöl im Souterrain oder Pasta. „Niemand habe in Italien einen Löffel, um darin seine Spaghetti auf die Gabel zu wickeln“, wusste Imke. Die gute alte Zeit. Ella Fitzgerald mochten wir und Louis Armstrong. Wir hatten Musikkassetten und die dazugehörenden Abspielgeräte. Das Internet war noch nicht erfunden. Kein Mensch verwendete einen Computer. Es gab bereits Telefone mit Tasten, aber viele hatten noch die mit Wählscheibe. Die beschriebene Zeit datiere ich auf die zweite Hälfte der Achtzigerjahre.
Meine beste Freundin wohnte nur ein paar Schritte entfernt, eine Tanzschule befand sich im Haus und der Orthopäde. Etwas Treppe war nötig zu laufen, weil der Fahrstuhl irgendwann endet. Die Wohnung von Imkes Eltern thronte noch auf dem für die Straße hoch gebauten Haus (vom Großvater, das Wirtschaftswunder ermöglichte manche Existenz). Wir führten eine Musikparodie auf, unterhielten die Eltern im Wohnzimmer. Das ging nach Westen und ein Balkon war, glaube ich, auch dran. Man kann bis zur Elbe schauen. Wir probierten, mit ihren Sachen eine Mappe zusammenzustellen. Das war nötig für einen Studienplatz. Das Wichtigste aber wurde dieses Projekt, ein Musical auf die Bühne zu bringen. Das mit der Armgartstraße geriet in den Hintergrund verschiedener Ansätze, wie es mit ihrem Leben weitergehen könnte, und Charity brachte bald viele Leute zusammen, dass wir alle beschäftigt waren. Mein Studium trat zurück, und vielleicht habe ich weniger gesegelt.
# Wer kann die Zukunft schauen?
Dieses unternehmungslustige Mädchen lebt heute in Kalifornien. Es gibt nur zufällige, sporadische Berührungspunkte mit Pausen von mehreren Jahren dazwischen. Dann höre ich von Verwandten, was sie macht und wie es ihr geht. Unsere letzte Begegnung ist schon eine Weile her. So viele Bilder versammeln sich aus den Zutaten unserer verschieden gewordenen Leben. Erinnerungen bilden einen bunten Salat. Jeder Mensch gerät unverwechselbar individuell. Keine zwei identischen Zwillinge leben auf diesem Planeten, weil Leben perspektivisch vom Ort seines Daseins motiviert ist. Wie jedes Auge ein eigenes Bild entwirft, jede Kamera, sammelt unser Gehirn einmalige Eindrücke am Ort der Existenz. Das ergibt unverwechselbare Entscheidungen aufgrund persönlicher Erfahrungen. So verstehe ich das Künstlersein, man begreift sich als einmalig im positiven wie negativen Sinn. Existentielle Kreativität macht nötig, sich dafür eigene Räume zu schaffen. Das zwingt den Menschen dazu, sich deutlich vom Allgemeinen abzugrenzen, was dem normal Mitlaufenden weniger wichtig ist.
Chef zu sein, ist vergleichbar. Man muss lernen, selbst zu denken. Das bedeutet, allgemein verbreitete Unwahrheiten als Absichtserklärungen zu entlarven. Leute etablieren moderne Worte für Bekanntes. Um eigene Interessen zu verbergen, möchten sie erreichen, dass wir ihre Ziele zu unseren machen. Was ist ein Grenzwert, und wer legt ihn fest? Wem nützt die jeweilige rote Linie, sollte man sich fragen. Viele modische Ausdrücke werden kreiert mit dem Ziel, Werbung zu machen für das Projekt ihrer Erfinder. Ein Klimaziel zu erreichen, mag eine gute Sache sein. Die Absicht bekanntzugeben, man wolle dieses bis zu einem bestimmten Termin schaffen, beinhaltet gemeinsame Anstrengungen. Das darf nicht darüber hinweg täuschen, wie Mehrheitsmeinungen zustande kommen. Ob alle hier lebenden Menschen dem Team Deutschland geschlossen folgen, zuarbeiten und Energie für eine gute Sache aufbringen, hängt von der Überzeugungskraft einiger Aktivisten ab. Es nützt Populisten und der Wirtschaft, die in eine vermeintlich grüne Richtung produziert. Natürlich steigen die Temperaturen seit Jahren. Es kann nicht bestritten werden, dass Überbevölkerung unseren Lebensraum gefährdet. Die jeweiligen Schlagworte für das eigene Handeln selbst zu bewerten, leugnet nicht den Klimawandel. Was aber für mich wahr ist, spüre ich am eigenen Leib und nicht in der Wohlfühlzone von Ricarda Lang.
Grüne Ideen sind wichtig. Unser Überleben insgesamt als Menschheit auf dem Planeten hängt davon ab, ob wir es schaffen, eine gute Umgebung zu erhalten. Der isolierte Blick übersieht den vielerorts unverhältnismäßigen Wohlstand in unserem Land. Wir schauen vom Gipfel des Glücks nach oben wie Hansguckindieluft. Was heißt Leben für uns, wenn doch alle schließlich einmal sterben müssen, und wie ist die Qualität des Daseins in einer perfekten Umgebung? Nicht nur grüne Energiepolitik fokussiert eng, blendet aus. Hier wird ein unglaublicher Aufwand betrieben, Menschen mithilfe moderner Medizin am Leben zu erhalten, die ohne das bei uns zur Verfügung stehende Equipment sofort sterben müssten. Perfektion, alles ganz gut und richtig zu machen, kann unser Stolperstein werden, weil wir auf den Schultern der Ärmsten stehen. Der Blick auf unsere hochentwickelte Versorgung darf die Armut und das Elend anderswo nicht ausblenden. Ein Großteil der Weltbevölkerung lebt vergleichsweise ursprünglich, gemessen an unserer differenzierten Struktur voller Regeln, Sicherungen und Bequemlichkeiten. Wir können nicht fahren ohne Gurt oder Helm, müssen die Abgasnorm erfüllen und trennen penibel Müll. Viele Menschen auf dem Planeten kennen diese Regeln gar nicht, weil sie bei ihnen ohne Bedeutung sind. Die machen so gesehen alle nicht mit bei der für uns in den Medien omnipräsenten Weltrettung. Das mag ein Argument sein, sich auch hier frech dem Mainstream zu verweigern und zeigt einmal mehr die Probleme auf, Leute für eine Sache zu gewinnen.
Wer meint, für alle denken zu können und die gemeinsame Richtung befehlen, sollte sich warm anziehen, falls dieser Marsch die gewohnte Energieversorgung der Menschen im Land zerstört. Der Tenor der Regierung lautet, begriffen zu haben, was zu tun ist. Das sollen bitte die mitmachen, die eine gemeinsame Überzeugung teilen. Die Qualität der freien Demokratie hängt von der Einsatzbereitschaft wie Entwicklungsmöglichkeit ihrer Bürger ab. Wer Perspektiven hat, wird seine ganze Kraft hineinwerfen, die persönliche und nächste Umgebung lebenswert auszugestalten. Das sind aber keine Menschen in nur irgendeinem Job, die tun wie’s gesagt wird, sondern Individuen. Auch die Russen, Türken oder Chinesen sind viel mehr als von Propaganda verdummte Leute, wie das hier gern gesehen wird. Deutschland ändert keine fremde Regierung durch Sanktionen, sondern stärkt den Zusammenhalt dort und zersetzt die Motivation unserer eigenen Bevölkerung, für ein kollektives Ziel Geschlossenheit an den Tag zu legen.
Ein Nachrichtenüberblick Ende März, in Israel gehen Menschen auf die Straße, kämpfen für den Erhalt ihrer Demokratie. Unruhen sind weltweit im Gange. In Frankreich protestieren die Massen gegen die Rentenreform. Deutschland steht still, weil Verdi es will. In der Ukraine kehren einige zurück in Städte, die von abziehenden Russen verlassen wurden. Dort ist alles kaputt. Hilfslieferungen versorgen die Menschen mit dem Nötigsten. Wir sehen Wohnblöcke mit zerstörten Dächern. Es werden keine Solarpanele montiert. Im Hintergrund Krieg und dürres Gestrüpp, kein Windrad ragt in den Himmel. Schnitt, nun folgt ein Mittelmeerdrama. Das mit Flüchtlingen überfüllte Schlauchboot tuckert durchs Bild. Es wird mit einem klimaschädlichen Verbrenner angetrieben. Darüber diskutiert niemand. Die Italiener bescheren Geflüchteten den bekannt unfreundlichen Empfang. Hier in Deutschland bewertet man die, wie es heißt, populistische Regierung kritisch. Tritte gegen Klimakleber, es gärt auch bei uns. Die Ampel ist aus. Der Verkehr steht. Das ist die Stille vor dem Sturm. Mein Fazit, wir sind Schilda, bis das Geld aus ist. Dann wählt Deutschland stramm rechts.
Aktionismus ist nicht neu. Arbeitsplätze würden nicht geschaffen, wusste etwa mein Vater, das sei eine verdrehte Darstellung der Realität. Eine Firma probiere, mit möglichst wenigen Mitarbeitern zu produzieren. Unternehmen würden nicht gegründet oder vergrößert, um Deutschland und den Leuten eine Arbeit zu geben, als Spielwiese mit Geräten zu gefallen: Er erkannte Parallelen, Spielplätze für Kinder waren ja auch noch neu. Arbeitsplätze für Erwachsene schmiegten sich symmetrisch wortgleich daran an. Quatsch, war seine Ansicht.
Als mein Vater Kind gewesen ist, fiel die Schule aus im Krieg. Man schipperte im Winter auf Eisschollen, denen die Jungs ein Wriggloch verpassten für einen Riemen oder langen Stökerstock. Die Kinder spielten mit Brandbomben, die nicht explodiert waren. Mein Professor Otto Ruths, der noch älter war als mein Vater und Soldat, erzählte aus seiner Kindheit, dass er zum Geburtstag eine ausgediente Blechdose als einziges Geschenk bekam, worauf er sich schon wochenlang freute, weil die Eltern dergleichen angedeutet hatten. Meine Legosteine waren eine Kiste mit Krams und konnten alles sein, von Schiff über Flugzeug bis Kran oder Haus. Erst später wurden ganze Bausätze verkauft. Vor diesem Hintergrund erkannten meine Eltern Spielplätze im selben Duktus geschaffen wie Arbeitsplätze als vorgefertigte Struktur. Sie sahen eine Gemeinsamkeit, Schnittmenge zum Osten. Planwirtschaft, die von Propaganda gestützt funktionierte, galt bei uns als sozial verblödete Ideologie. Die freie Wirtschaft, wo der Einzelne mit eigener Initiative durchstarten kann, sollte nicht verwässert werden: Mein Vater stand vorgekauten Ideen ausgesprochen kritisch gegenüber. Ein Geschäft brauche Angestellte, schaffe aber in diesem Sinne keine Arbeitsplätze, meinte er. Ich begriff es nicht. Erich wollte sich nicht einlullen lassen von sozialen Ideen, wie sie mit dem neuen Kanzler Willy Brandt aufkamen. Er mochte selbstständig sein und eröffnete das Geschäft, als ich noch klein war. Das taten meine Eltern, weil sie ihr Leben selbst in die Hand nehmen wollten und nicht, um möglichst vielen Verkäuferinnen eine Möglichkeit zu bieten, bei uns Geld zu verdienen. Insofern war ihre Perspektive nicht die einer sozialen Politik. Das sollten wir Kinder lernen, wenn sie wiederholten, was sie so wichtig fanden.
Der Regierung ist daran gelegen, dass die Menschen arbeiten. Dem Einzelnen gefällt eine vielversprechende Zukunft. Was anders ist beim eigenen Fischladen (als irgendwo Mitarbeiter zu sein) realisierten und kapierten wir allmählich, aber wie es mit meiner Grafik laufen würde, blieb Neuland. Das musste ich allein herausfinden. Meine Eltern waren keine Hilfe. Mit eigenen Problemen beschäftigt, hofften sie, meine Ausbildung würde mich befähigen zu leben. Das hat erst einmal gar nicht funktioniert und ist auf uns alle, die ganze Familie, zurückgefallen.
Manchmal treffe ich noch gemeinsame Bekannte zufällig in Wedel, dann reden wir über früher. Alles ist lange her. Ich habe vor kurzem Olaf ergoogelt, der muss an dieser Stelle erwähnt werden, damit kein falscher Eindruck entsteht. Mein Beitrag zum Projekt war nicht bedeutsam, ein wenig Bühnenbild und eine kurze Rolle anfangs. Olaf ist nicht schwer zu finden im Netz. Er grinst unverkennbar auf verschiedenen Fotos in die Kamera, steht im Leben. Manche Weggefährten, bereits tot, sind mal feste Mitglieder eines weiten Bekanntenkreises gewesen. Olaf und Imke jedenfalls waren von Beginn an entscheidende Macher. Bald hatte sich eine feste Gruppe gebildet, ein harter Kern von Leuten, die etwas mit Musik und Theater, Tanz machen wollten. Über viele Jahre eine großartige Sache mit mehreren Produktionen auch an bekannten Spielstätten in Hamburg.
Eine Jazzband quasi zu daten, war nötig, weil wir Musiker für das Stück suchten. Zunächst mussten überhaupt am Musical Interessierte gefunden werden. Die ersten Bekanntschaften fanden sich in einer Hamburger Kneipe. Anfangs hatte ich selbst noch gar nichts damit zu tun. Imke erzählte, sie hätten eine Anzeige geschaltet in irgendeinem Szeneheft. Da wären ein paar Leute gekommen, und man hätte den ganzen Abend über begeistert geredet. Nächste Woche wolle man sich wieder treffen, so gingen alle vergnügt und voller Ideen nach Hause. Aber zum verabredeten Termin, der ja auch fortlaufend in dieser Zeitung beworben wurde, wären andere Leute gekommen, meinte sie. Großartige Ideen auch dieses Mal, alles wie in der Woche zuvor. In der dritten Woche wären wieder andere erschienen, aber ein oder zwei Gestalten der vorangegangenen Treffen waren tatsächlich auch dabei. Schließlich begann der harte Kern verlässlicher Menschen damit, ernsthaft zu proben, irgendwann auch im Amerikahaus, nachdem das als Location zugesagt hatte. Eric Emmanuele kam regelmäßig dazu, da ging es wirklich voran. Imke fing an, bei ihm im Show-Shop zu arbeiten. Das erste Orchester, mit dem alles so richtig gut wurde, kam aus Lübeck und hatte eine professionelle Dirigentin vom Polizeiorchester.
Ich saß da zunächst nur skizzierend in den Proben, bis wir eine immer mehr miteinander verwobene Gemeinschaft wurden. Sweet Charity wurde aufgeführt, und es war mehr als Schülertheater. Wir ließen mein Plakat über eine bekannte Agentur drucken. Mit jeder neuen Aufführung stieg die Professionalität. Ich war schon stolz auf meine Bühnendeko, aber ein Schauspieler konnte ich nicht gut sein. Meine kleine Rolle anfänglich, das war aufregend, aber gut konnte ich das nicht. Als Polizist komme ich dazu, wie die klatschnasse Charity Hope Valentine probiert, mit den Fingern zu schnippen. „Ich könnte an jedem Finger zehn haben“, meint gerade Joana (unser Star), „aber meine Finger sind etwas nass.“ Einige Leute haben sich versammelt, staunen, was geschieht. „Sie ist in den See gefallen.“ Wir sind zwei Kollegen, die eine Runde im Park drehen. Um die Gaffer zu vertreiben sage ich: „Weitergehen! Bitte gehen Sie weiter. Hier gibt es nichts zu sehen.“ Imke kritisierte: „Du stehst da wie ein Fragezeichen.“ Während die Produktion immer besser wurde, auf der Reeperbahn an verschiedener Stelle lief, später andere Musicals einstudiert wurden, war ich immer seltener dabei. Imke wanderte aus nach Amerika. Ich beendete mein Studium mit Bestnote. Nichtsdestotrotz, diese Zeit ist ein Stück vom Glück bis heute.
# Jazz habe ich schon als Kind geliebt
Die Merrytale hatte mit dem zurückgekehrten Vohwinkel und später Jochen Rose zwei Berufsmusiker. Ich fand es wirklich schwierig nachzuvollziehen, wie die Trompeter zu dem wurden, was sie offenkundig waren und was ihre Existenz von der anderer in der breiten Masse unterschied. Diese Menschen erkannte ich als Vorbilder, weniger im Sinne von Musikern, aber als freie, kreative Existenzen und zog doch nicht die nötigen Konsequenzen, stolperte bloß voran. Die Musiker einer Band sind allein verantwortlich für ihre Soli, müssen sich aber integriert artikulieren. Es war ganz schwer für mich zu verstehen, was Musik machen oder Bilder malen vom Fische verkaufen unterscheidet. Ich studierte Illustration, arbeitete im Auftrag, wie der Segelmacher das Persenning für den Kunden näht, verstand dabei nicht wirklich, warum alles nötig wäre. Ein langer Weg zurück nach vorn ist malen.
Nötige Betrachtungen lassen sich leicht formulieren, wenn man die passenden Bilder im Kopf hat. So verstehe ich meine Arbeit. Kunst sollte Forschung sein, ein eigener Zweig des Denkens neben den bekannten Fakultäten. Die ästhetische Bildsprache oder das kreative Schreiben sind Darstellungsmöglichkeiten wie Film, Theater und Musik. Wir möchten unser Inneres ausloten und eigenes Empfinden mitteilen auf ästhetische Weise. Dieses Adjektiv probiert darauf hinzuweisen, worin die Kunst besteht. Es soll diverse Repertoires benennen, welche als etablierte Formen bekannt sind. Die Trillerpfeife des empörten Gewerkschafters ist eine Ausdrucksform der wütenden Masse, die Druck auf ihren Arbeitgeber macht. Musiker geben sich geschmeidiger, dass man gern zuhört. Im Prinzip ist hier die Schnittmenge zum Normalen gegeben. Was heißt Normalität, und warum ist Kunst anders, habe ich mich fragen müssen.
# Nicht sozial
Inzwischen gibt es viele Antworten und mir ist es auch möglich, sie alle auf einen Kern der Probleme zusammenzuführen. Das Problem, was der Einzelne haben mag, beim Verfehlen seines persönlichen Glückes, ist in jedem Fall im Zentrum seiner selbst zu lokalisieren. Freies Atmen ist wesentlich für einen gesunden Menschen, und ein Staat verbraucht und benötigt Energie: Es nützt, über Systeme nachzudenken. Der Mensch als geschlossene Einheit findet eine Grenze an seiner Haut. Man hört auf, wo die Umgebung beginnt. Olaf Scholz, unser Kanzler (nicht der erwähnte Freund vom Musical), hat schon zu Beginn des Konflikts der Ukraine bescheinigt, dass Grenzen zu verschieben, wie Russland es probiere, absolut inakzeptabel wäre. Dergleichen anzumahnen, hat nicht aufgehalten, was bereits im Gange war. Vergleicht man also das System Staat mit dem eines Lebewesens, kann der empörteste Politiker nicht verhindern, dass eine Landesgrenze variabel, die Begrenzung vom Menschen aber ungleich konkreter ist. Wir können Gliedmaßen verlieren aber kein drittes Bein erkämpfen. Wozu sollte das auch gut sein? Das sehen manche anders: „My body, my choice“, klebt ein Schildchen auf einer Laterne. Drüber irgendwelche Eierstöcke (oder so was) angedeutet, ein kleiner Aufkleber. „Wir basteln uns ’nen Penis“, denke ich. Mir gefällt, jede Mode zu verspotten. Randfigur sein, kann befriedigen, ohne eine Bewegung zu gründen.
Es macht Sinn, verschiedene Strukturen einer vergleichenden Betrachtung zu unterziehen. Firmen sind auf Gewinn ausgerichtet. Hier kennt man den Sinn effektiver Kontrolle, um Fehler zu vermeiden, welche dem Wettbewerb Vorteile verschafften. Zwei Methoden kommen zur Anwendung, Störungen in den Griff zu bekommen. Zunächst steht das Ziel im Vordergrund, der Definition eines Systems entsprechend, die Einheit zu begreifen. Damit kann von einer gemeinsamen Motivation ausgegangen werden und dem entgegen gerichtete Kräfte wären nachteilig. Man wirft Gegner raus oder integriert, bis alle am selben Strang ziehen. Nach dieser Methode werden Angestellte entlassen. Man cancelt, operiert den Tumor raus. Menschen kämpfen gegen den Krebs, sagen sie – und dann sind sie doch tot. Wenn das alle machen, muss es richtig sein, denkt der Normale. Wir reden von Integration immerhin.
Mir hat sehr geholfen, dasselbe überall bemerken zu können. Zellen übernehmen Aufgaben, Organe fungieren im Staat wie im Körper, mit dem Unterschied, dass wir Menschen ein Individuum sind mit vorgegebener Struktur. Wir haben einen Rumpf, Extremitäten und Kopf, allerlei Innereien, die wir uns so nicht aussuchen. Transmädchen wollen Titten, aber keine zwei Bauchspeicheldrüsen. Die würde niemand sehen. Man kauft ein dickes Auto und tafelt von Aldi. Das Gehirn, die Leber, Milz, den Magen-Darm-Trakt, das hat man und verwendet sich ohne Fachweiterbildung. Firmen und Staaten nutzen ähnliche Strukturen, eine Chefetage und die Produktion; Deutschland ist ein vergleichbar strukturiertes System, das aber flexibel umgebaut werden kann.
Der normale Mensch ist einer im Unterschied zum Künstler, weil ihm gesagt wurde, wie man lebt und damit zurechtkommt. Der Normale lernte, sich anzupassen und ein wenig an Einfluss zu gewinnen. So einer sagt anderen, was nötig ist. Die Kunst zeigt vieles auf, hat aber keine Macht in dem Sinne, Misslichkeiten aktiv umzugestalten wie etwa Politik oder nützliche Produktion. Kunst ist bestenfalls nutzlos. Dekoration wäre vergleichsweise kommerziell. Dazwischen findet sich ein Stück weit trockene Insel für den unangepassten Schwimmer im Kot normaler Nichtkünstler. Wir sehen braune Kloake, die anderen Abendstimmung auf Mallorca gibt. Man fliegt zum Ballermann und sagt: „Mit einem Elektroauto kann die Energiewende gelingen!“ Mit einem Panzer kann man den Krieg gewinnen, denken viele, mit dummen Sprüchen Konkurrenten ausschalten; das sind normale Verhaltensweisen. Sie sind sozial oder asozial, in jedem Fall am Nachbarn ausgerichtet. Kunst bleibt einsam. Kreativität stellt das Leben dar, bildet es ab, bleibt Polizei ohne Staatsanwalt, Gericht, Gefängnis dahinter. Man stellt den Täter, stellt sich, stellt bloß – und das war’s. Wir Künstler sind Menschen ohne Macht, besser gesagt, wir akzeptieren das. Unser Grundverständnis vom Leben beruht auf der Einsicht, die Welt nicht ändern zu können.
# Die Königin vom Dorf will wichtig sein
Normale sind deswegen welche, weil ihnen die Vision bleibt, sozial zu gestalten. Die Küchenchefin kocht Suppe für alle, und wir müssen das auslöffeln. Eine Bürgermeisterin glaubt fest daran, Gutes für andere zu tun. Der Handwerker kennt den Wettbewerb und arbeitet entsprechend. Papa weiß, wie’s geht. Töchterlein lernt. Dann tritt der kleine Mensch in die Fußstapfen einer etablierten Struktur. Klappt es nicht, erstreitet sich der Kluge seinen Platz allein. Wir Kreativen haben so unsere sozialen Probleme. Das Leben gelingt dem Künstler nur ausnahmsweise, weil hier eine Anomalie am Anfang die Weichen stellte. Wir fahren im selben Jahr ab aus dem Kreißsaal, schippern parallel eine Zeit lang zusammen. Dann entfernen sich die Fahrwasser, der Fluss teilt sich weiter auf im Delta, spült die Bötchen hinaus aufs weite Meer, wo der Ozean anfängt. Die Menschen gehen zur Schule. Sie machen eine Ausbildung mit anderen. Man segelt zusammen, danach spreizen die Lebenswege auseinander. Eine gewisse Neugier, alles verstehen zu wollen, führt nicht zwingend in stabile Existenz. Der verstorbene Stephen Hawking sagt in einem Buch, dass er schon als Kind ständig Uhren zerlegt habe, um zu verstehen wie diese funktionierten. Nie habe er geschafft, sie anschließend wieder korrekt zusammenzubauen. Forschung und Kunst liegen nahe beieinander.
Ich würde keinem jungen Menschen sagen, was typischerweise aus dem Mund von Eltern kommt, den sogenannten Erwachsenen und wie ich vieles auch mit auf den Weg bekam! Wir alle müssen diese Ratschläge und Weisheiten verdauen, mit denen man der nachfolgenden Generation das Maul stopft, sie beeindrucken möchte oder manipulieren. Ich weiß heute, es ist so unglaublich befriedigend, Gefühle abseits der Norm und dem, was sich gehört, empfinden zu können. Man profitiert endlich davon, etwas gelernt zu haben, das gefällt – mit all seinen Tücken, die eine ernsthafte Tätigkeit mit einem konkreten Ziel bereithält. Wunder, wie toll der Zufall das Werk bestimme und dergleichen Quatsch, mag ich nicht mehr hören von den Kolleginnen. Nein, man arbeitet oft lange, bis die Erschöpfung eine Pause erzwingt, und dann geht es weiter oder eine neue Tätigkeit verlangt, erledigt zu werden. Das ist etwas ganz anderes, als sich aufzureiben mit so Sachen, die unerreichbar sind.
Alle schimpfen, wenn Habeck Blödsinn redet, aber Künstler wissen im Unterschied zum normalen Bürger, dass sie’s nicht ändern werden. Die Masse folgt oder geht gegenan, in jedem Fall ist ein typischer Mensch davon überzeugt, Einfluss nehmen zu können. Leute gehen zur Wahl. Sie ernähren sich, wie’s gesagt wird, vegan, retten die Welt, meinen sie. Menschen wissen, wer Schuld ist? Das ist vielen wichtig. So hoch trabende Personen vermessen den biologischen Fußabdruck, während andere einfach nur zutreten. Blöde sind kleine Arschlöcher mit einer klaren Meinung und fester Überzeugung wovon auch immer. Ich habe, so gesehen, mein normales Leben komplett vermasselt, lebe einfach nur und schaue hin.
Das kann ich.
🙂