
Leute
Nebenbei ein Plädoyer für das Kreativsein: Schreiben sei „das Sichtbarmachen von Gedanken“, befand weise Martin Andersch – mein lieber, alter Professor an der Armgartstraße. Hier lernte ich seinerzeit die Humanistische Kursive aufs Papier zu bringen. Das ist eine überlieferte Handschrift, für die man einen Federhalter benötigt und dünnflüssige Tinte.
Es war so ganz am Ende der Achtzigerjahre, Martin stand die Rechtschreibreform bevor. Erste Ideen wurden öffentlich diskutiert. Die allmählich bekannt werdenden Pläne erregten seinen Unmut. Wie diese Alten schimpften! Maß zu halten beim Alkohol, würde zukünftig womöglich gleich geschrieben wie diesen in Massen zu trinken, fürchtete der Bruder von Alfred Andersch (dem Schriftsteller). So weit ist es nicht gekommen. Wir haben uns inzwischen als Gesellschaft zusammengerauft, was das betrifft, aber ein neues Fass aufgemacht. Schnee von gestern und genauso eine unendliche Geschichte. Sprache verbindet und trennt: „Bund gibt eine Milliarde Euro mehr für Geflüchtete“, lese ich auf einem Nachrichtenportal. Eine Stolperfalle im Satzbild ist für mich der Begriff Geflüchtete. Das moderne Wort mag es geschlechtsneutral. Gerade entdecke ich das Monstrum Steuerleutebesprechungen. Es findet sich in der Ausschreibung für die Glückstadt-Regatta in diesem Jahr. Was das eine mit dem anderen zu tun hat? Manche haben ein Problem mit der Zeitenwende in unserer Sprache. Das ist schon ein paar Zeilen wert.
# Steuernde
Das Gendern sei „von oben“ aufgezwungen, meinen Kritiker, stimmt das? Zunächst einmal sind es Menschen in der Öffentlichkeit, die uns damit beeindrucken, ein Wort wie „Soldat:innen“ fließend hinzubekommen, dass man es kaum spürt im Vortrag. Wir haben viele Möglichkeiten, vollständig Mann und Frau anzusprechen. Mit „Liebe Kollegen und Kolleginnen“ eine Anrede zu beginnen, ist elegant und dürfte ausnahmslos Freude bereiten. Das Satzbild mit Gendersternchen oder anderen Extras zu überfrachten, stößt bei vielen auf direkte Ablehnung. Es gibt auch das Problem, dem Anspruch nach Korrektheit nie genügen zu können, nicht nur, weil wir mehr als männlich oder weiblich definiert sind, sondern die Vermeidungsworte alternativ des generischen Maskulinums ihre Tücken haben. Radfahrer und Radfahrerinnen, die an einer Ampel halten und deswegen einen Fuß zu Boden setzen, fahren nicht und wären deswegen nicht Radfahrende, meinen Kritisierende. Segelnde, die im Hafen ankommen, werden zu Paddelnden oder Motorenden, und Steuernde, die gerade an einer Steuerleutebesprechung beteiligt den Wettfahrtleitenden lauschen, sind Hörende und nicht länger Steuernde.
Das Thema ist ambivalent, zugegebenermaßen. Aus Fluß wurde Fluss und Fuß blieb Fuß. Das macht durchaus Sinn. Damit könnte Martin Andersch zufrieden gewesen sein? Er hat das Ende des jahrelangen Hin und Her nicht mehr erlebt, bis die Reform im Alltag angekommen ist. Die Wogen haben sich geglättet. Jetzt zieht neues Schwerwetter auf, der Gendernado wirbelt durch unsere Sprache. Sich zu erinnern, macht es einfacher, mit neuen Bedingungen klarzukommen. Martin hat einen Sohn, der segelt, das kann ich wohl schreiben, und wir sind allesamt dem Wasser verbunden. Mein Professor mochte Joseph Conrad. „Spiegel der See“ bezeichnete Andersch als „eines der schönsten Bücher“, die es gibt. Conrad erläutert im Kapitel über das Ankern, wie viel ihm die genaue Sprache bedeutet. Mit meinem Professor habe ich mich nie darüber unterhalten, aber von meinem Großvater lernte ich, dass Schiffsnamen immer in Versalien geschrieben werden. Opa Heinz hatte als junger Mann eine Reise mit einem bekannten Segelschiff gemacht und fühlte sich der Reederei Laeisz verbunden. Das größte deutsche Rahsegelschiff war die PREUSSEN gewesen, die auf tragische Weise im Englischen Kanal verloren ging. Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass auch nur einer von den Alten sich Gedanken darüber gemacht hätte, da müsste eigentlich korrekt „Preußen“ dranstehen am Rumpf? Es gab kein Eszett als Großbuchstabe. Heute wird eines in mancher Type angeboten, und ich finde das sehr gewöhnungsbedürftig. Das Problem ist weniger in der Schrift oder unserer Sprache zu lokalisieren, sondern in menschlichen Vorlieben für Gewohntes. Mir fällt schwer, das einzusehen. Ich bin selbst beinahe alt inzwischen.
# Radfahrende, Studierende, Flüchtende – Geflüchtete?
Vor ein paar Jahren, als Angela Merkel Kanzlerin war, prägte sie den Satz: „Wir schaffen das!“ Heute blicken wir zurück auf die Flüchtlingskrise. Das ist ein Begriff, den man googeln kann wie etwa Freizeitskipper, und der findet sich im Netz der Vollständigkeit halber auch modern in der weiblichen Form. Ein so unbeschwert Herumfahrender ist unterwegs auf dem Wasser mit seiner Mannschaft. Das Wort nun macht Probleme. Es ist gegebenenfalls schwierig für Perfektionisten, welchen an vollumfänglicher Gleichberechtigung von Mann und Frau im Satzbild gelegen ist. Eleganter umschifften wir die heikle Formulierung zukünftig mit „dem Team auf unserem Schiff“. Im Notfall heißt es: „Person über Bord!“ Das lehrt die moderne Segelschule. Geht der Kahn womöglich unter, ruft man keinesfalls: „Alle Mann von Bord, Frauen und Kinder zuerst!“ Heute spricht das geübte Personal von Personen, Passagieren und Passagierinnen, Transpersonen. (Die sitzen bestenfalls mittschiffs im Rettungsboot, irgendwie dazwischen). Nicht zu verwechseln damit sind altbekannte Transitpassagiere; alles muss korrekt verbalisiert sein. Frauen, Kinder, Menschen, Tiere, Sensationen, da sollte jeder mal durchüben, was geht? Kapitän oder Kapitänin, das Sprechen wandelt sich, selbst wenn man nicht mitmachen möchte bei diesem Blödsinn. Jeder Veranstalter, sogar der Vorstand vom Karnickelzuchtverein, fühlt Rechtfertigungsdruck angesichts der modernen Masse.
Der Mann sei bloß kein Sexist! Heute ernähren wir uns gesund, vegan und trinken niemals Alkohol. Wir lernen sprachlich um, sind smart. Unsere Väter wussten es noch anders. Damals an der Pinne hieß es: „Mann an’d Roar geiht allen vor!“ Das war ein bekannter Trinkspruch, wenn an Bord eine Buddel mit Schnaps gereicht wurde unter den Seefahrern. „Roar“ meint Ruder. Das ist nicht zum Rudern, denn dafür verwendet unsereiner die Riemen. (Das sind keine Paddel, sehen aber ähnlich aus). Die Pinne oder ein Steuerrad bewegt das Ruderblatt im Wasser und bestimmt die Fahrtrichtung. Hier ist also der Rudergänger gemeint. Wer ein Schiff steuert, ist nicht deswegen auch gleichzeitig der Kapitän. Wir sprechen auf den Jollen vom Steuermann mit Vorschoter, ohne je das Geschlecht zu berücksichtigen. Das ist schwierig geworden.
Bevor eine Regatta gestartet wird, werden die Boote im Hafen vorbereitet. Unter Umständen ist es nötig seitens der Wettfahrtleitung, Besonderheiten bekanntzugeben, die man so beim Verfassen der Meldebedingungen noch gar nicht wissen kann. Vielleicht ist eine gefährliche Wetterlage eingetreten und die zu segelnde Bahn erfährt eine Korrektur oder das Wasser- und Schifffahrtsamt fordert eine Auflage, die den Steuerleuten bekannt gegeben werden muss? In den Segelanweisungen wird gern darauf hingewiesen, sich vor dem Start zu informieren. Bei der Glückstadt-Regatta findet dergleichen vor dem Restaurant am Yachthafen statt. Die schon bekannten Infoblättchen kommen heute digital daher. Sie haben sich im Laufe der Zeit nur wenig verändert, was Layout und Inhalt betrifft. Im Jahr der Flüchtlingskrise wird noch die Rede gewesen sein von der Steuermannsbesprechung wie immer zuvor, und wir hatten ja auch keine Geflüchtetenkrise, das meine ich. Noch früher kam die Schiffahrt ganz unspektakulär daher. Drei gleiche Konsonanten wären ein Unding, lehrte mich der Deutschlehrer. Unsere Boote gondelten in rauher See wie gewohnt.
Dieser Lehrer unterrichtete auch Kunst. Er war ein guter Aquarellist. Gerd Kröger hat maßgeblich Anteil daran, dass mein kreatives Leben in Fahrt gekommen (und dieses Leben insgesamt überhaupt noch als gelungen zu bezeichnen ist). Kurioserweise seiner Zeit voraus illustrierte er uns auch die Schwäche der Vermeidung dreier gleicher Konsonanten, sollten diese bei einer Wortzusammensetzung eigentlich nötig werden. Das war lange vor der Rechtschreibreform in den Siebzigerjahren, als er zugab, mit dem Wort Stillleben Probleme zu haben, das in seiner alten Schreibweise genauso gut den Stil einer Malerei im Sinn haben konnte wie ein stilles Arrangement. Gäbe es keine guten Argumente für Veränderungen, bliebe alles, wie es eben ist.
Von Albert Einstein heißt es, er habe in Bildern gedacht. Das ist also ein Kollege von Picasso gewesen, der, wie alle Maler, nicht nur den Kopf voller bunter Ideen hatte, sondern auch was damit anfangen konnte. Gewöhnliche Menschen denken in Worten. „Ich sollte meine Steuererklärung machen“, könnte typisch sein als eine Aufforderung an den inneren Schweinehund. Die bereits erwähnten Steuerleute erwägen Taktisches während der Wettfahrt. „Ich könnte wenden. Sollte ich rumgehen? Was macht Piet?“, so etwa überlegt man und dann ist es soweit: „Wir gehen rum!“ Laut Segellehrbuch erfolgt in so einem Moment eine eingeübte Dialogfolge.
„Klar zur Wende!“
„Ist klar.“
„Ree!“
Je nach Schiffsgröße und Vollständigkeitsanspruch kommen weitere Kommandos dazu, etwa an den Rudergänger, wenn ein die Befehle gebender Kapitän selbst nicht steuert. Man dürfte die Bedienung der Schoten vorgeben, das Loswerfen auf einer Seite und Dichtnehmen nach der Wende drüben: „Über die Fock!“, wäre das Mindeste in Kurzform. Um einen großen Rahsegler zu wenden, müsste weit mehr getan und angewiesen werden. Wer etwa mit unserem Schulschiff Gorch Fock auf den anderen Bug wenden möchte, luvt an bis in den Wind. Dann fällt der Vortopp back. Nun nimmt das Schiff Fahrt auf über den Achtersteven. „Machen die Männer ihre Sache gut, schwingen die Rahen der achteren Masten ganz leicht herum“, meinte Opa Heinz. Liegt der Rahsegler gut zum neuen Kurs, beginnen die Segel achtern sich zu füllen und das Schiff nimmt wieder Fahrt voraus auf. Dann benötigt man einige Kraft, den Vortopp zu brassen, bis auch dort die Segel den Wind wieder nutzen können. Es ist klar, dass dafür eine Menge Kommandos vonnöten sind. Es gab keine Frauen an Bord. Die gesamte Berufssprache der Seefahrt kannte nur auf den Mann bezogene Formulierungen.
Auf einer kleinen Jolle, wenn man vielleicht mit seiner Freundin Regatta segelt, kommen wir auch ohne große Worte klar. Bestenfalls ist der Vorschoter taktisch voll integriert in alle Überlegungen und ein: „Jetzt!“ mag das Einzige sein, den gesamten Prozess einer nötigen Wende zu starten. Unvergessen ist die Beschreibung eines Freundes, der so spontan herum wollte und seine Vorschoterin überraschte, dass diese keine Zeit fand zu handeln. Jan legte entschieden die Pinne, ohne ein Wort zu sagen. Das Boot wendete, die Fock blieb in der Klemme, schlug back und drückte die Jolle flugs auf den neuen Bug. Die überrumpelte Mitseglerin kam gar nicht dazu, irgendetwas zum Manöver beizutragen. Sie hing weiter mit dem Hintern über die Bordwand im Ausreitgurt, halb unter Wasser gurgelnd in Lee. Das bremst! Der unweigerliche Streit an Bord und die fällige Entschuldigung des Kapitäns lautete:
„In Gedanken war ich schon rum.“
Auf die Seemannssprache zu verweisen in einer Reflexion des Zeitgeistes nützt insofern, weil es eine Berufssprache ist, die ohne Schnickschnack klar sein muss und schnell. Es gab keine Frauen an Bord aus vielen und guten Gründen. Aus noch mehr guten, ja besseren Gründen nehmen Frauen heute vollumfänglich am Leben teil, müssen noch immer kämpfen dafür. Eine Sprache kann schlicht dumm sein, wie man es bei einfachen Menschen kennt: „Ey, kann ich mal die Flasche?“, und unnötigerweise überfrachtet, falls jemand eingebildet daherredet. Gendern zu übertreiben, ist albern. Das wird sich einschleifen und schon bald normal dazugehören. Mein erwähnter Klassenlehrer liebte Männer, glaube ich, und das war damals nur ganz unspektakulär möglich. Würden die modernen Vorkämpfer für Toleranz keinen solchen Zinnober um ihre (sexuellen) Bedürfnisse machen, polarisierten sie weniger. Die klügeren Menschen lernen irgendwann, nicht groß aufzufallen und sich so fast unbemerkt einen guten Platz (im Leben) zu ersegeln.
# Lenkt die Meute Leute?
„Was einmal gedacht wurde, kann nicht mehr zurückgenommen werden“, schreibt Friedrich Dürrenmatt in „Die Physiker“, ein schmaler Band, eine Erzählung in Form des Theaterstücks; ich habe es als Student gelesen. Während sich die Welt Gedanken macht, ob Atomwaffen in der Ukraine zum Einsatz kommen könnten, bei Dürrenmatt ist das Thema ja die Erfindung und Entdeckung atomarer Konstruktionen als todbringende Gefahr für die Menschheit, erleben wir das moderne Gendern und seine Vermeidungsworte als unumkehrbaren Prozess.
Wir müssen hinnehmen, dass sich die Sprache wandelt, und auch dazu findet sich bei Dürrenmatt im selben Büchlein der bemerkenswerte Satz: „Was alle angeht, können nur alle lösen“. Das bedeutet ein natürlich mitgegebenes Plus für jede erdenkliche demokratische Idee und weist auf die grundsätzliche Schwäche aller Diktatur hin. Für die Freiheit und Vielseitigkeit wie Gleichberechtigung setzten sich die Menschen automatisch von selbst ein. Im Verlauf jeder (kriegerischen) Auseinandersetzung gewinnt die Wahrheit ihrer Notwendigkeit. Das relativiert die Schuldzuweisungen der Beteiligten. Mich freut, dass hier ein Künstler, Schriftsteller vorwegdachte, was mir heute zum Werkzeug nützt, das aktuelle Weltgeschehen einzuordnen (und eben nicht ein Politiker). Es stärkt Kreative, gibt Daseinsberechtigung.
Wir werden gebraucht.
🙂