
Grenzgänger
Eine psychische Verhaltensauffälligkeit kann man faken, eine Grippe nicht. Influenza ist nie verhandelbar. Wer rotzt, schnupft, hustet und fiebert, ist krank. Frauen bedrängen, ist hingegen zunächst ein böses Verhalten und wird unter Umständen als Krankheit gewertet, wenn etwa der Mann kein Multimillionär ist. Gute Rechtsanwälte verlangen hohe Honorare. Der psychiatrische Gutachter bestimmt von Fall zu Fall, ob der Angeklagte ein Sexualverbrecher ist oder krank. In der normalen Medizin ginge das nicht. Ein gebrochenes Bein ist eines, und ein Tumor wird im Kernspin zweifelsfrei sichtbar. Die Diagnosen bei „richtigen“ Krankheiten sind in der Regel eindeutig begründet. Wer hingegen schuldhaft als Täter gilt oder – wenn Abhängigkeiten (im Verhältnis zu jungen Menschen) ausgenutzt werden – ein krankhaft Pädophiler sein soll, legen Leute fest, die dazu die nötige Macht innehaben. Das sind Anschuldigungen und Bewertungen, die ein Arzt belegen muss. So entscheidet man relativ, wie viele Geschädigte gegenüber dem Beschuldigten das Wort ergreifen und was dabei gesagt wird. Es geht um Zuständigkeiten, ob mutmaßlich Verbrechen geschehen sind oder zwanghafter Wahn als Motiv gelten möge. Der Arzt möchte seine Fakultät als nötig, sich selbst als Spezialist beweisen und kann das nur, wenn die Täter sich das gefallen lassen. Gegenüber einem vermögenden Prinzen beispielsweise fällt sein Anspruch, diesen als behandlungswürdigen Patienten zu bekommen, geringer aus. Wer Geld hat, kann nicht krank sein, nimmt man an. Solche Menschen stehen nicht allein im Leben. Wer gut vernetzt ist, wird weniger krank als vielmehr schuldhaft böswillig erscheinen in so einem Fall.
Man hat ein Augenmerk auf Sonderlinge und als zu unauffällig erscheinende Nachbarn, nimmt abstruses Empfinden an, wo das zu passen scheint. Das ruft allerlei Helfer auf den Plan, richtige Polizisten, aber vor allem auch Leute, die welche sein wollen. Beim Lehrer nebenan, Onkel, Stiefvater, Pfarrer oder dem Musiklehrer im Dorf schaffen es Sittenwächter, die sich berufen fühlen, ein Bataillon von Weltrettern zu mobilisieren, wenn da „was“ vorgefallen sein könnte. Ein ganzer Berufszweig lebt noch gut davon. Die Therapeuten möchten mit Menschen arbeiten, obwohl einmal sexuell auffällige Täter regelmäßig rückfällig werden? Das versteht die Gesellschaft nicht. Es sind vor allem Definitionen: Die psychischen Erkrankungen werden vielfältig beschrieben. Sie haben ihre Namen, die auch alle paar Jahre noch geändert werden, um Untergruppen zu kreieren, mit wichtigen Worten zu belegen. Dennoch sind absurde Verhaltensweisen zunächst Irrwege und weniger konkret als ein Schnupfen, den man hat, weil man ihn sich wo einfängt. Ob die sexuelle Vorliebe falsch sein soll, wechselt, je nach dem, der urteilt. Wir belegen solche Menschen mit einem Wort, das sie kennzeichnet wie eine Marke das Auto. Abgegrenzt von normalen Krankheiten, die kommen und gehen, haben Menschen Probleme mit der Definition Liebe. Ein häufig mal Erkälteter wird deswegen dem Namen nach kein Fieberer. Den Mann mit sexueller Ausrichtung auf junge Menschen bezeichnen wir als Pädophilen. Wer gleichgeschlechtlich liebt, ist Homosexueller. Die Gesellschaft kommt nie los davon, ob sie weniger typische Verhaltensweisen als krank oder bloß anders bezeichnen soll. In jedem Fall müssen Manipulation und Kindesmissbrauch verhindert werden.
Das zumindest ist Konsens.
Eine Grippe mit Fieber wird niemand erfolgreich simulieren und genauso wenig ihr Ende auf den nächsten Tag beschließen, wenn man bettlägerig ist. Psychisch als krank geltende Verhaltensweisen könnte ein geübter Schauspieler glaubwürdig nachmachen? Jedenfalls einen oberflächlichen Erfolg dürfte einer damit haben bei vielen, die meinen Bescheid zu wissen. Das bedeutet umgekehrt leider auch, dass Menschen, die behaupten sich auszukennen, derartige Krankheiten demjenigen zuschreiben können, der es sich gefallen lässt. Wo und wann die Krankheit anfängt, mag gut zu belegen sein. Wann das Ende einer Phase kommt und ob das überhaupt geschieht, geschehen wird oder vorbei ist mit dem krankhaften Wahn, bleibt Verhandlungssache. Müssen Medikamente genommen werden oder könnten sie nützen, probiert man aus. Dabei ist der Patient nicht frei und wird als an die Hand genommen sein Leben führen, während andere mit Hüftproblemen, Augenleiden oder Krebs leicht den Arzt wechseln, falls das nötig erscheint. Psychisch Kranke könnten das gleichwohl für sich entscheiden, werden aber stets aus einer Unsicherheit heraus handeln und vom Regen in die Traufe kommen, wenn sie ihre Medikamente eigenmächtig absetzen oder den Arzt oft wechseln.
Sozial unangepasste Menschen haben überall Probleme. Sie wechseln ihre Beziehungen nie auf elegante Weise. Die machen das anders: Sie verklagen den Psychiater nicht. Sie beleidigen ihn unangemessen. Manche schlagen den Doktor tot. Normale Wehwehchen können gut behandelt werden. Wer einen Bandscheibenvorfall hat, sucht sich den besten Orthopäden für eine Operation, bis die gewünschte Reparatur erreicht wurde. Ein sinnvolles Ziel zum befriedigenden Leben kreieren und effizient ansteuern, kann der psychisch Kranke nicht. Aber einer, der psychisch krank gewesen ist, kann es auch nicht so gut, wie jemand, der immer bei geistiger Gesundheit lebte und lernte, Erfolg zu haben.
Da setzt der dumme oder böswillige Helfer an und nagelt den Verwirrten fest.
Psychische Krankheiten und sexuelle Abnormitäten: Wer zu Geld kam und pädophil empfindet, lebt diese Lust gegebenenfalls unbescholten aus. Die jungen Frauen machen mit, und nur im Ausnahmefall kommt es zu Anklagen, die bloß ausnahmsweise zu Verurteilungen führen. Krank gilt der Täter, wenn er nicht vermögend ist oder sich nicht adäquat juristisch zu wehren versteht. Wie stark die Abhängigkeit jugendlicher Menschen ausgenutzt wurde, spielt eine Rolle. Hier wird genau hingeschaut, um eine Abgrenzung der Schuld oder relativ die Möglichkeit einer Erkrankung anzunehmen. Wenn dergleichen nicht ohne Diskussion möglich ist, dürfen wir nie vergessen, dass hier ein intellektuelles Geschehen das Ergebnis schafft, nicht ein Virus oder Krebs ursächlich sein kann, sondern allein die Bewertung von Juristen und Gutachtern entscheidet. Da könnte manches Wort der Wahrheit helfen, eine bessere zu werden, wenn diese das Ergebnis einer Verhandlung sein soll und insofern vergleichbar ist mit der Qualität einer steinzeitlichen Ausgrabung. So etwas überzeugt um so trefflicher, je mehr Fundstücke auftauchen.
Ich erinnere diese Beschreibung: Ein Gymnasiallehrer aus der Region beginnt eine Beziehung mit einer Schülerin. Der verheiratete Mann mietet eine kleine Wohnung an. Das Mädchen weiht eine einzige Freundin ein, dass es ihr gelungen ist, den coolen Typen für sich zu gewinnen. Die Ehefrau weiß von nichts. Die Eltern der Schülerin erfahren es nicht, und der Studienrat verspricht dem Mädchen spätere Heirat. Er ließe sich ihretwegen scheiden, sagt der Mann. Es geht ein Jahr oder so. Dann schleichen sich zu erwartende Probleme ein. Das Mädchen meint zu erkennen, dass es dem Lehrer nur um Sex geht. Daran zerbricht die Beziehung und schließlich steht der Mann vor Gericht. Er zahlt eine Strafe und dürfte mit einem Berufsverbot belegt worden sein. Das kann ich nicht sagen, weil mir der Fall nur von einem Nachrichtenportal her bekannt ist und das Ganze einige Zeit zurück liegt, dass ich’s las. Hier wurde niemand für krank erklärt, das hätte nicht funktioniert. Der Lehrer war zwar nicht reich wie Epstein, dem als voll schuldhaft pädokriminell bezeichneten Mann, der sich in der Gefängniszelle erhängte, aber zivilisiert im Umgang mit der Affäre. Die Schülerin ist beinahe volljährig gewesen, die Beziehung verlief einvernehmlich. Das Mädchen hat ihn womöglich nie beschuldigt? Sie hat eben Schluss gemacht, und dann haben sich andere positioniert, den Mann fertigzumachen, anzuklagen. Das hat der, soweit ich mich erinnere, sportlich genommen. Was man daraus lernen kann, ist Wehrhaftigkeit. Das gilt besonders für die Schülerin, die in jedem Fall bewiesen hat, dass Menschen sich entwickeln können und werden, Beziehungen nur funktionieren, wenn die Beteiligten gleichermaßen etwas davon haben.
Psychiatrie ist wortgewaltig. Verbalisierungen kennzeichnen diese Pseudowissenschaft, die auf den Beinen der Pharmaindustrie gedeiht. Ein Psychiater misst nicht zuallererst den Dopaminspiegel beim offensichtlich psychotischen Menschen. Der Arzt verabreicht ein Medikament, wenn er es denn hinbekommt, und Helfer fixieren den Betroffenen. Die Diagnose ergibt sich aus dem Augenschein und Gesprächen bei derartigem Verhalten. Falls die Polizei Teil von notwendigen Aktionen wurde, die allgemeine Sicherheit gefährdet ist, der Patient sich auch selbst Schaden zufügt, wird der Amtsrichter einen Beschluss festlegen. Das gegen sich selbst und andere gerichtete Verhalten des Menschen genügt schon mal für die grundsätzliche Diagnose. Entsprechend dem Symptom einer laufenden Nase beim Schnupfen, das dem Hausarzt ein Indikator ist, finden sich bekannte Belege für den Psychiater im Erscheinungsbild des zu Begutachtenden, wenn dieser zur Krankheit passenden Blödsinn macht. Für einige Tage darf der Patient gegen seinen Willen behandelt werden, bis erneut geschaut wird, ob der Beschluss noch Sinn macht. Die dem Haldol ähnlichen Medikamente wirken in der Regel hochdosiert gut. Das wird auch auf Intensivstationen nötigerweise gegeben, wenn ein Frischoperierter seinen Delir durchfährt. Nach einigen Tagen sind die Verhältnisse gebessert, wieder normal. Eine Psychose kann jeder an sich erleben, wenn der Stress hoch genug ist.
So können auch Schwangerschaft und Geburt dazu führen.
Eine schwere Depression wird durch gutes Zureden nicht besser. Die Mitternachtsfahrt des vollkommen psychotischen Menschen kann unbehandelt lange dauern und bedingt große Risiken. Die Notfallbehandlung wird heute qualifiziert und mit besten Ergebnissen angewendet. Was danach kommt, ist allerdings eine berechtigte Frage, und die Antworten erschrecken schon mal, schaut man sich Lebenswege an.
Psychische Abnormität ist ein weites Feld. Wer möchte sagen, wo das Normale endet? Hier kommt vor allem derjenige zum Zuge, der glaubhaft machen kann, Gefahr wäre (auch zukünftig) im Verzug. Bei ehrlicher Sicht auf diese Krankheiten müssten die davon nicht Betroffenen einsehen, dass sie ihre zufällige Gesundheit oft als Macht missbrauchen, andere wegzustempeln.
Nichts stört den Polizisten mehr, als wenn der als Spinner Diagnostizierte aufhört zu spinnen. Der Aufpasser verliert sein Objekt der Begierde. Ein der Behörde Bekannter ist das liebste Spielzeug der Kripo. In der Kombination aus Arzt, Ordnungshüter und im Verein mit sozialen Verbänden, Gesundheitsamt, dem Apparat zuarbeitenden Angehörigen, die ihr eigenes Süppchen kochen (Vorteilsnahme treibt manche an), sieht der Patient sich einer Gegnerschaft ausgesetzt, die nur das Beste will. Was diese Leute nicht möchten, ist, dass so einer sich mit einem Mal ganz normal verhält. Es könnte ihre Wichtigkeit untergraben. Da kommen Prognosen auf, das sei halt eine Phase, der Verrückte spiele nur, keiner zu sein.
„Ihr werdet es sehen!“
Man piesackt auf Verdacht.
„Ein wenig Provokation gefällig? Schauen wir mal, ob der das abkann …“
Und dann wird genau hingeschaut.
Ich schaue zurück und zeichne euch.
🙂